Der Idiot
Schließlich warf sie den Brief mit einem sonderbaren,
spöttischen Lächeln in den Schubkasten ihres Nähtisches. Am folgenden
Tag nahm sie ihn wieder heraus und legte ihn in ein dickes, stark in
Halbfranz gebundenes Buch (so machte sie es immer mit ihren
Briefschaften, um sie recht schnell zu finden, sobald sie sie
gebrauchte). Erst eine Woche darauf sah sie zufällig, was es eigentlich
für ein Buch war, in dem dieser Brief lag. Es war der ›Don Quijote de
la Mancha‹. Aglaja lachte laut auf; es ist schwer zu sagen, warum.
Auch wissen wir nicht zu sagen, ob sie den Brief einer ihrer Schwestern zeigte.
Aber gleich bei der Lektüre des Briefes war ihr der Gedanke durch
den Kopf gegangen: hat sich denn wirklich der Fürst diesen
eingebildeten, großtuerischen Jungen dazu ausersehen, mit ihm Briefe zu
wechseln, und ist dieser Junge vielleicht am Ende gar der einzige
Mensch, mit dem der Fürst hier in Korrespondenz steht? So nahm sie denn
eine sehr geringschätzige Miene an und unterwarf Kolja einem Verhör.
Aber der sonst immer sehr empfindliche »Junge« beachtete diesmal diese
Geringschätzung nicht im mindesten; sehr kurz und in recht trockenem
Ton erklärte er der Fragerin, er habe zwar bei der Abreise des Fürsten
von Petersburg diesem für jeden Fall seine ständige Adresse mitgeteilt
und ihm dabei seine Dienste angeboten; aber dies sei der erste Auftrag,
den er von ihm empfangen habe, und das erste Schreiben desselben; und
zum Beweis der Wahrheit des Gesagten zeigte er ihr auch den Brief, den
er selbst von dem Fürsten erhalten hatte. Aglaja machte sich kein
Gewissen daraus, ihn zu lesen. In diesem Brief an Kolja stand:
»Lieber Kolja, seien Sie so gut, den hier beiliegenden Brief an Aglaja Iwanowna abzugeben. Bleiben Sie hübsch gesund!
Ihr Sie liebender Fürst L. Myschkin.«
»Es ist doch komisch, daß er sich einen solchen Knirps zum
Vertrauten aussucht«, bemerkte Aglaja in beleidigendem Ton, gab Kolja
den Brief zurück und ging geringschätzig an ihm vorbei.
Das war nun doch mehr, als Kolja ertragen konnte. Und er hatte noch
gerade für diesen Besuch seinen Bruder Ganja, ohne ihm den Grund zu
erklären, gebeten, ob er nicht dessen noch ganz neue grüne Krawatte
umbinden dürfe! Er fühlte sich bitter gekränkt.
II
Es war Anfang Juni, und das Wetter war in Petersburg schon eine
ganze Woche lang außerordentlich schön gewesen. Jepantschins besaßen
ein prächtiges eigenes Landhaus in Pawlowsk. Lisaweta Prokofjewna bekam
es auf einmal mit der Unruhe und trieb zum Aufbruch; nach kaum zwei
Tagen geschäftiger Tätigkeit zogen sie um.
Einen oder zwei Tage nach dem Umzug der Familie Jepantschin traf
Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin mit dem Morgenzug aus Moskau ein. Es
war niemand zu seinem Empfang auf dem Bahnhof erschienen; aber beim
Aussteigen aus dem Waggon kam es ihm auf einmal so vor, als ob aus der
Menge, die die mit dem Zug Angekommenen umdrängte, der seltsame,
brennende Blick zweier Augen auf ihn gerichtet sei. Als er jedoch
aufmerksamer hinschaute, konnte er nichts mehr wahrnehmen. Gewiß war es
ihm nur so vorgekommen; aber es blieb doch bei ihm eine unangenehme
Empfindung zurück. Zudem war der Fürst auch ohnedies traurig und
nachdenklich und schien aus irgendeinem Grund in Sorge zu sein.
Ein Droschkenkutscher fuhr ihn nach einem Gasthof in der
Litejnajastraße. Das Gasthaus war sehr gering. Der Fürst erhielt zwei
kleine, dunkle, schlecht möblierte Zimmer, wusch sich und kleidete sich
um; dann ging er, ohne etwas zu genießen, eilig aus, wie wenn er Zeit
zu verlieren oder jemanden nicht zu Hause zu treffen fürchtete.
Wenn einer von den Leuten, die ihn vor einem halben Jahr bei seinem
ersten Aufenthalt in Petersburg kennengelernt hatten, ihn jetzt gesehen
hätte, so würde er vielleicht gefunden haben, daß sein Äußeres sich
sehr vorteilhaft verändert habe. Und doch war das kaum der Fall. Nur
die Kleidung war eine völlig andere geworden: er trug jetzt einen in
Moskau von einem guten Schneider gearbeiteten Anzug; aber dieser Anzug
hatte einen Fehler: er war gar zu sehr nach der Mode angefertigt (wie
das gewissenhafte, aber nicht sehr talentvolle Schneider immer machen),
und noch dazu für einen Menschen, der darauf nicht den geringsten Wert
legte, so daß ein besonders Lachlustiger bei einem aufmerksamen Blick
auf den Fürsten vielleicht Anlaß genommen hätte zu lächeln. Aber was
kommt den Leuten nicht alles lächerlich vor.
Der Fürst nahm eine Droschke und fuhr nach den
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