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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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ihm hergekommen sind, dann reden Sie jetzt mit ihm; es
ist gerade die rechte Zeit. Wenn er abends nach Hause kommt, dann ist
er allerdings manchmal betrunken; aber jetzt weint er meistens bis in
die Nacht hinein und liest uns aus der Heiligen Schrift vor, weil
unsere Mutter vor fünf Wochen gestorben ist.«
    »Er ist wahrscheinlich deswegen weggelaufen, weil er noch nicht
recht wußte, was er Ihnen antworten soll«, rief lachend vom Sofa her
der junge Mann. »Ich möchte wetten, daß er vorhat, Sie zu betrügen, und
sich jetzt überlegt, wie er es anzustellen hat.«
    »Erst vor fünf Wochen! Erst vor fünf Wochen!« fiel der
zurückkehrende Lebedjew ein, der inzwischen den Frack angezogen hatte.
Er blinzelte mit den Augen und zog ein Taschentuch aus der Tasche, um
sich damit die Tränen abzuwischen. »Meine Kinder sind mutterlos!«
    »Aber warum kommen Sie denn in diesem zerlumpten Anzug herein?«
sagte das Mädchen. »Da hinter der Tür haben Sie ja einen ganz neuen
Oberrock liegen; haben Sie ihn nicht gesehen, nein?«
    »Schweig still, du Schwätzerin!« schrie Lebedjew sie an.
    »Willst du wohl!« Er trampelte wieder, um sie zu bedrohen, mit den Füßen.
    Aber dieses Mal lachte sie nur. »Warum versuchen Sie, mich zu
erschrecken? Ich bin ja nicht Tanja; ich werde nicht davonlaufen«,
sagte sie. »Sie werden noch unsere kleine Ljubow hier aufwecken, und
dann wird sie noch Krämpfe bekommen ... Weshalb schreien Sie denn so?«
    »Nein, nein, nein! Schweig, schweig ...!« versetzte Lebedjew in
größter Bestürzung, lief zu dem Kind hin, das auf dem Arm seiner
Tochter schlief, und bekreuzte es mit erschrockener Miene mehrmals.
»Herr Gott, erhalte sie mir; Herr Gott, erhalte sie mir! Das ist meine
Kleinste, meine Tochter Ljubow«, wandte er sich an den Fürsten; »sie
ist in legitimer Ehe von meiner unlängst verstorbenen Gattin Jelena
geboren, die im Wochenbett starb. Und dieser Kiebitz hier ist meine
Tochter Wjera, in Trauerkleidung. Und dieser, dieser, ja dieser ...«
    »Nun? Bist du steckengeblieben?« rief der junge Mann.
    »So fahr doch fort! Sei nicht verlegen!«
    »Durchlaucht!« rief Lebedjew plötzlich mit Heftigkeit.
    »Haben Sie von der Ermordung der Familie Schemarin in den Zeitungen gelesen?«
    »Ja, ich habe davon gelesen«, erwiderte der Fürst einigermaßen verwundert.
    »Nun, das ist hier der wahre Mörder der Familie Schemarin; er ist es, er!«
    »Aber was reden Sie!« versetzte der Fürst.
    »Das heißt, im übertragenen Sinn gesprochen; er ist der künftige
zweite Mörder einer künftigen zweiten Familie Schemarin, wenn es noch
einmal eine solche geben wird. Darauf bereitet er sich jetzt schon vor
...«
    Alle lachten. Dem Fürsten kam der Gedanke, Lebedjew mache vielleicht
wirklich diese Winkelzüge und Seitensprünge nur deshalb, weil er seine
Fragen voraussehe, nicht wisse, was er darauf antworten solle, und Zeit
zu gewinnen suche.
    »Er revoltiert! Er stiftet Verschwörungen an!« schrie Lebedjew, als
wenn er nicht mehr imstande wäre, sich zu beherrschen. »Na, bin ich
denn imstande, na, bin ich denn berechtigt, einen solchen Verleumder,
einen solchen Wüstling und Unmenschen als meinen leiblichen Neffen, als
den einzigen Sohn meiner seligen Schwester Anisja anzuerkennen?«
    »Hör doch auf, du betrunkenes Subjekt! Können Sie es glauben, Fürst,
jetzt ist er auf den Einfall gekommen, sich mit Advokatur zu befassen
und Vertretungen vor Gericht zu übernehmen; er hat sich auf die
Rhetorik geworfen und redet mit seinen Kindern im Haus immer nur noch
im höheren Stil. Vor fünf Tagen hat er vor den Friedensrichtern
gesprochen. Und wen hat er da verteidigt? Nicht die alte Frau, die ihn
gebeten und angefleht hatte, und die von so einem Schuft von Wucherer
ausgeplündert worden war (fünfhundert Rubel, die ihr gehörten, ihr
ganzes Vermögen, hatte der Mensch sich angeeignet), sondern eben diesen
Wucherer selbst, einen gewissen Seidler, einen Juden, weil der
versprochen hatte, ihm fünfzig Rubel zu geben ...«
    »Fünfzig Rubel, wenn ich den Prozeß gewönne, und nur fünf, wenn ich
ihn verlöre«, erklärte Lebedjew auf einmal in einer ganz andern Tonart
als die, in der er bisher gesprochen hatte, und so, als ob er nie
geschrien hätte.
    »Na, er hat natürlich nichts ausgerichtet; es geht jetzt bei Gericht
nicht mehr so zu wie ehemals; man hat ihn da nur ausgelacht. Aber er
war mit sich sehr zufrieden. ›Denken Sie daran, meine unparteiischen
Herren Richter‹, hat er gesagt, ›daß ein

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