Der Ikarus-Plan - Ludlum, R: Ikarus-Plan
mehr bei ihr gemeldet hatte. Zwar war er, wie sie sagte, ein Meister im Verschwinden, doch hatte er ihr bisher immer Bescheid gesagt oder sich, wenn auch auf Umwegen, mit ihr in Verbindung gesetzt. Was Ann jedoch besonders beunruhigt hatte, war die Tatsache, daß plötzlich die Telefone seiner beiden Häuser gleichzeitig gestört waren und sie sich weder mit dem arabischen Ehepaar in Virginia noch mit Manny Weingrass in Colorado in Verbindung setzen konnte.
Paddy O’Reilly hatte seine jeweils ortsansässigen Kollegen
um Amtshilfe ersuchen wollen, doch das hatte Ann abgelehnt. Sie wollte kein Aufsehen. Und wie immer hatte O’Reilly nachgegeben und war selbst gefahren.
Die Straße war unbeleuchtet, und daher sah er die hohe Mauer und das schmiedeeiserne weiße Tor erst, als das Licht seiner Scheinwerfer zitternd über sie hinweghuschte. Im ersten Augenblick begriff er nicht, wieso, doch gleich darauf war ihm alles klar. Auch das Haus war dunkel, sah unbewohnt und verlassen aus, als seien die Besitzer verreist. Aber der Besitzer war nicht verreist, und selbst wenn er es gewesen wäre, wäre das arabische Ehepaar aus Dubai im Haus, das den Besitz in Ordnung hielt. Hätte sich daran etwas geändert oder wären die Wachposten abberufen worden, hätte Ann O’Reilly auf ihrem Vertrauensposten in Kendricks Büro bestimmt davon erfahren. O’Reilly hielt am Straßenrand, nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus dem Wagen. Instinktiv faßte er unter das Jackett, und seine Hand schloß sich um den Griff des Revolvers im Schulterhalfter. Er näherte sich dem Tor und erwartete, jeden Moment von Scheinwerfern angestrahlt zu werden oder einen akustischen Alarm auszulösen, der mit kreischendem Sirenengeheul die Stille der Nacht zerriß. Diese Methode hieß bei der CIA totaler Objekt- oder Personenschutz.
Aber es passierte gar nichts.
Vorsichtig schob O’Reilly den Arm zwischen den schmiedeeisernen weißen Stäben durch. Noch immer nichts. Dann drückte er gegen das Tor. Beide Flügel öffneten sich nach innen. Und wieder geschah nichts.
Er ging durch das Tor, den linken Daumen am Schalter der Taschenlampe, die rechte Hand in Brusthöhe unter das Jackett geschoben. Er knipste die Lampe an, und was er in den nächsten Sekunden in ihrem Schein zu sehen bekam, ließ ihn entsetzt zurückprallen. Zusammengekauert preßte er sich an die Mauer und riß den Revolver heraus.
»Heilige Maria, Mutter Gottes«, flüsterte er.
Keine drei Meter von ihm entfernt lag die Leiche eines jungen Wachpostens von der CIA. Der Straßenanzug, den er trug, war mit dem Blut aus der furchtbaren Halswunde getränkt, die ihm fast den Kopf abgetrennt hatte. Noch fester preßte O’Reilly sich an die Mauer, löschte sofort die Taschenlampe und versuchte seine Nerven zu beruhigen. Gewaltsamer Tod war ihm vertraut,
und weil das so war, wußte er, daß er noch mehr Tote finden würde – ebenso wie er wußte, daß die Mörder nicht mehr da waren. Langsam stand er auf und machte sich auf die Suche.
Er fand noch drei Leichen, alle verstümmelt, alle ganz offensichtlich vom Tod überrascht. Jesus! Wie? Er bückte sich und untersuchte den vierten Leichnam; und dabei entdeckte er etwas Ungewöhnliches. Im Nacken steckte eine abgebrochene Nadel, die Spitze eines Pfeils. Die Wachposten waren betäubt und dann getötet worden. Sie hatten nicht gewußt, was mit ihnen geschah.
Langsam und vorsichtig näherte sich Patrick O’Reilly der Haustür, obwohl er auch diesmal wußte, daß er nicht vorsichtig zu sein brauchte. Die verruchte Tat war geschehen; übrig waren nur noch die Toten.
Es waren sechs. Allen hatte man die Kehle durchgeschnitten, alle waren mit allmählich trocknendem Blut bedeckt, jedes Gesicht war qualvoll verzerrt. Das Furchtbarste jedoch waren die beiden Leichen von Kendricks Freunden aus Dubai. Der Mann lag wie beim Koitus auf seiner Frau, und die blutbesudelten Gesichter waren aufeinandergepreßt. An der Wand hatten die Mörder mit Blut geschmiert:
Tod allen, die Gott verraten! Tod den Hurern des Großen Satans!
Wo war Kendrick? Heilige Mutter Gottes! Wo war er? O’Reilly raste durch das Haus, durchsuchte es vom Keller bis zum Dachboden, suchte in jedem Zimmer, in jedem Raum, knipste alle Lichter an, bis das ganze Anwesen in Festbeleuchtung erstrahlte. Von Kendrick keine Spur. O’Reilly rannte in die Garage. Der Mercedes war nicht da, der Cadillac leer. Er begann den Park zu durchsuchen, lief kreuz und quer, schaute unter
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