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Der illustrierte Mann

Der illustrierte Mann

Titel: Der illustrierte Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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und Leidenschaften leuchten auf und sind verdichtet in einem winzigen Tropfen Zeit.
    Rückblenden vom äußersten Rand seines Lebens, bereute er nur eines: daß er nicht weiterleben durfte. Empfanden alle Menschen im Sterben das gleiche, als ob sie nie gelebt hätten? War das Leben wirklich so kurz, abgetan und vorbei, bevor man den nächsten Atemzug tun konnte? Kam es allen anderen auch so abgerissen und unfaßbar vor oder nur ihm selbst hier, jetzt, da ihm nur noch wenige Stunden zum Denken und Überlegen blieben?
    Einer der anderen Männer, Lespere, erzählte: »Ich hab' mir wenigstens ein schönes Leben gemacht: auf dem Mars, der Venus und dem Jupiter hatte ich eine Frau. Alle hatten sie viel Geld und verwöhnten mich. Ich hab' mich betrunken, und einmal verspielte ich zwanzigtausend Dollar auf einen Schlag.«
    Aber jetzt bist du hier, dachte Hollis. Ich besaß nichts dergleichen. Als ich lebte, habe ich dich beneidet, Lespere; an jedem neuen Tag habe ich dich um deine Frauen und um dein gutes Leben beneidet. Ich hatte Angst vor Frauen, und gleichzeitig sehnte ich mich nach ihnen, und wenn ich in den Weltraum vorstieß, beneidete ich dich um ihren Besitz, um dein Geld und um das wenige Glück, das du dir auf deine wilde Art verschafftest. Doch jetzt, da alles vorbei ist und wir ins Nichts stürzen, beneide ich dich nicht mehr, denn du bist genauso am Ende wie ich, und jetzt ist es grad so, als wär' es nie gewesen.
    Hollis streckte den Kopf vor und schrie in das Mikrophon: »Es ist alles vorbei, Lespere!«
    Stille.
    »Es ist grad so, als ob es nie gewesen ist, Lespere!«
    »Wer ist das?« Lesperes unsichere Stimme.
    »Ich bin's, Hollis.«
    Er benahm sich gemein. Er spürte die Gemeinheit, die gefühllose Gemeinheit des Sterbens. Applegate hatte ihn verletzt; jetzt brannte er danach, jemand anderen zu verletzen. Applegate und der Weltraum, beide hatten ihn verletzt.
    »Sie sind jetzt hier draußen, Lespere. Es ist alles vorbei. Genauso, als wäre es nie geschehen, nicht wahr?«
    »Nein.«
    »Wenn etwas vorbei ist, ist es immer so, als sei es nie geschehen. Ist Ihr Leben auch nur einen Deut besser als meins, jetzt? Nur das Jetzt zählt. Ist es auch nur eine Spur besser? Ist es?«
    »Ja, es ist besser!«
    »Wie denn!«
    »Weil ich meine Erinnerungen besitze, die niemand mir nehmen kann!« schrie Lespere empört.
    Und er hatte recht. Mit einem Gefühl, als ströme ihm kaltes Wasser durch Kopf und Glieder, wußte Hollis, daß er recht hatte. Zwischen Erinnerungen und Träumen bestand ein Unterschied. Er besaß nur Träume von Dingen, die er hatte tun wollen, während Lespere sich an Taten und wirkliche Geschehnisse erinnerte. Und dieses Wissen begann Hollis mit langsamer, aber unheimlich zäher Beständigkeit jegliche Selbstbeherrschung zu rauben.
    »Was nützt es Ihnen denn?« schrie er zu Lespere hinüber. »Jetzt? Wenn etwas verloren ist, hat es überhaupt keinen Nutzen mehr. Sie sind nicht besser dran als ich!«
    »Ich trage es mit Fassung«, antwortete Lespere. »Ich habe mein Leben gelebt. Ich werde am Ende nicht noch gemein wie Sie.«
    »Gemein?« Hollis ließ das Wort über seine Zunge rollen. Er war nie in seinem Leben gemein gewesen, so weit er zurückdenken konnte. Er hatte es nie gewagt, gemein zu sein. Er mußte dieses Gefühl die ganzen Jahre für eine Zeit wie diese aufgespart haben. Er spürte Tränen in seine Augen steigen und über sein Gesicht rollen. Jemand mußte seinen keuchenden Atem gehört haben.
    »Nehmen Sie's nicht so schwer, Hollis.«
    Es war regelrecht lächerlich. Noch vor ein paar Minuten hatte er anderen gute Ratschläge gegeben, Stimson, zum Beispiel. Er hatte sich mutig gefühlt und diesen Mut als wahr hingenommen; jetzt aber wußte er, daß dies nichts als ein Schock und die nur während eines solchen Schocks mögliche Objektivität gewesen war. Jetzt versuchte er, ein ganzes Leben voller unterdrückter Gefühlsregungen in eine Spanne von Minuten zu pressen.
    »Ich weiß, wie Sie sich fühlen, Hollis«, sagte Lespere, dessen Stimme, inzwischen zwanzigtausend Meilen entfernt, leiser wurde. »Ich fasse es nicht persönlich auf.«
    Aber sind wir denn nicht gleich? dachte er verwundert. Lespere und ich? Hier, jetzt? Wenn etwas vorbei ist, ist es verloren und nützt keinem mehr etwas. Man stirbt so auch so. Doch er wußte, daß er mit rein vernunftmäßigen Erwägungen nicht weiterkam; es war, als wollte man den Unterschied zwischen einem Lebenden und einer Leiche beschreiben. In dem

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