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Der illustrierte Mann

Der illustrierte Mann

Titel: Der illustrierte Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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bin ich kein Mensch.«
    Die Männer traten zurück.
    »Ich bin die Stadt«, sagte er lächelnd.
    »Ich habe zwanzigtausend Jahre gewartet«, fuhr er fort. »Ich habe auf die Rückkehr der Nachkommen der Urenkel der Enkel der Söhne gewartet.«
    »Kapitän, Sir!«
    »Unterbrecht mich nicht. Wer hat mich gebaut? Die Stadt. Die Männer, die hier gestorben sind. Die alte Rasse, die hier einst lebte. Das Volk, das von den Erdmenschen einer furchtbaren Seuche ausgeliefert wurde, einer Abart der Lepra, gegen die es kein Heilmittel gab. Und die Männer jenes alten Volkes, die von dem Tag träumten, an dem die Erdmenschen zurückkommen würden, bauten diese Stadt auf dem Planeten der Finsternis, nahe dem Gestade des Meeres der Jahrhunderte, vor dem Gebirge des Todes: ihr Name war und ist Rache – das klingt alles sehr poetisch. Diese ganze Stadt ist eine große Waagschale, eine Retorte, ein Fühler, der sämtliche Raumreisende der Vergangenheit getestet hat. In zwanzigtausend Jahren sind nur zwei andere Raumschiffe hier gelandet. Eines aus einem fernen Milchstraßensystem namens Ennt, und die Insassen dieses Schiffes wurden geprüft, gewogen, als unzutreffend befunden und unversehrt aus der Stadt entlassen. Dasselbe geschah mit den Besuchern aus dem zweiten Raumschiff. Doch heute, endlich, seid ihr gekommen! Die Rache wird bis auf die letzte, kleinste Einzelheit vollendet werden. Die Menschen hier sind seit zwanzigtausend Jahren tot, aber sie haben diese Stadt hinterlassen, euch zum Willkommensgruß!«
    »Kapitän, Sir, Sie fühlen sich nicht wohl. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie mit uns zum Schiff zurückkehrten.«
    Die Stadt erbebte.
    Die Straße öffnete sich, und die Männer stürzten schreiend in die Tiefe.
    Noch im Fallen sahen sie die blitzenden Klingen, die ihnen entgegenstarrten!
    Kurze Zeit verstrich.
    »Smith?«
    »Hier!«
    »Jensen?«
    »Hier!«
    »Jones, Hutchinson, Springer?«
    »Hier, hier, hier!«
    Sie standen vor der Schleuse ihres Raumschiffes.
    »Wir kehren sofort zur Erde zurück.«
    »Jawohl, Sir!«
    Die Einschnitte an ihren Nacken waren unsichtbar wie ihre erzenen Herzen, ihre silbernen Organe und die feinen goldenen Drähte ihres Nervensystems. Ein kaum vernehmbares elektrisches Summen drang aus ihren Köpfen.
    »Beeilung!«
    Neun Mann rollten rasch die goldglänzenden Bakterienbomben in das Innere des Schiffes.
    »Diese Bomben werden über der Erde abgeworfen.«
    »Zu Befehl, Sir!«
    Das Schleusentor des Raumschiffes schlug zu. Das Schiff stieg steil in den Himmel.
    Als das Donnern der Rückstoßdüsen verklang, lag die Stadt friedlich inmitten der sommerlichen Wiesen. Ihre gläsernen Augen trübten sich. Das Trommelfell entspannte sich, die großen Nüstern hörten auf zu atmen, die Straßen gaben ihre Funktion als Waagen auf, und der verborgene Maschinenpark kam mit all seinen funkelnden, geölten Rädern zum Stillstand.
    Im Himmel entschwand das Raumschiff.
    Langsam, genußvoll, gab sich die Stadt der Wonne des Sterbens hin.

Stunde Null
     
     
    Oh, es war so lustig! Was für ein herrliches Spiel! So etwas Aufregendes hatte es seit Jahren nicht gegeben! Die Kinder flitzten wie mit dem Katapult geschleudert hierhin und dorthin über den grünen Rasen, schrien durcheinander, faßten sich bei den Händen, tanzten im Kreis, kletterten auf die Bäume und lachten. Hoch über ihren Köpfen zogen Passagierraketen durch den Himmel, und auf den Straßen summten die Atomautos vorbei, doch die Kinder spielten ungestört weiter.
    Verstaubt und schwitzend kam Mink ins Haus gerannt. Für ein Mädchen von sieben Jahren war sie sehr selbstbewußt, kräftig und zielstrebig. Sie sauste an ihrer Mutter vorbei in die Küche, riß Schubladen und Schranktüren auf und begann, Pfannen und Töpfe und Werkzeuge rasselnd in einem großen Sack verschwinden zu lassen.
    »Um Himmels willen, Mink, was willst du denn damit?« fragte Mrs. Morris.
    »Für unser Spiel, das tollste, das wir je gespielt haben!« japste Mink mit glühenden Bäckchen.
    »Du bist ja ganz außer Atem. Bleib und ruh dich erst einmal aus«, entgegnete die Mutter.
    »Nein, ich bin nicht müde«, keuchte Mink. »Darf ich diese Sachen mitnehmen, Mammi?«
    »Na, schön – aber verbeul sie nicht«, erlaubte Mrs. Morris.
    »Danke, Mammi, danke!« schrie Mink, während sie bereits wie ein Wirbelwind aus der Küche fegte.
    »Wie heißt denn euer neues Spiel?« rief Mrs. Morris ihrem davonsausenden Liebling nach.
    »Invasion!« schrie Mink über die Schulter.

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