Der im Dunkeln wacht - Roman
seelenlos vor. Zwei Menschen, die zuviel arbeiteten, konnten ein Haus kaum mit Leben und Wärme erfüllen. Das war in einer Zweieinhalbzimmerwohnung bedeutend einfacher. Außerdem bräuchten sie dann nur noch ein Auto. Beide könnten sie mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit gelangen. Außerdem war das Hausgeld niedrig. Sie könnten ihre Wohnkosten um zwei Tausender im Monat verringern. Was sie zögern
ließ, war allein der Umstand, dass sie dann ihren kleinen Garten verlieren würden, denn beide machten sie sich immerhin ab und zu an den Beeten zu schaffen. Zwar besaßen sie auch noch das Sommerhäuschen bei Sunne, aber das hatte zwei Nachteile: Zum einen lag es – ohne jeden Garten – mitten im Wald, zum anderen eben dreihundert Kilometer weit entfernt; zu weit, wenn man nur das Gras unter den Fußsohlen spüren wollte.
Irene steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür zu der Wohnung, in der sie ihre ersten achtzehn Lebensjahre verbracht hatte. Sie machte Licht in der kleinen Diele und ging ins Badezimmer. Routinemäßig betätigte sie einmal die Wasserspülung der Toilette und drehte die Wasserhähne sowohl im Bad als auch in der Küche auf. Das Wasser der Siphons verdunstete, wenn die Leitungen lange nicht benutzt wurden. Einige Möbel ihrer Mutter Gerd standen noch in der Wohnung, aber ihre junge Mieterin hatte alles mitgenommen, was ihr gehört hatte. Die Wohnung kam Irene leer und verlassen vor.
Ob Gerd immer noch dort war? Der plötzliche Gedanke überraschte Irene selbst. Vielleicht war er gar nicht so abwegig, schließlich hatte ihre Mutter 45 Jahre in dieser Wohnung gelebt. Wenn sie irgendwo war, dann hier.
In diesem Augenblick kam es Irene vollkommen natürlich vor, den Versuch zu unternehmen, mit ihrer Mutter Verbindung aufzunehmen. Sie löschte die Deckenlampe und setzte sich in dem leeren Schlafzimmer mitten auf den Fußboden. Beim Jiu-Jitsu hatte sie gelernt, sich schnell in einen meditativen Zustand zu versetzen. Jetzt schloss sie die Augen und suchte das Mokuso. Langsam versank sie in die Meditation.
Eine kühle Berührung ihrer Stirn, wie eine federleichte Liebkosung. Eine Ruhe erfüllte sie von innen her und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Wärme. Geborgenheit. Sie war wieder ein kleines Kind. Ihre Mutter befand sich als Ahnung im Zimmer.
Ein vertrauter Duft von Lavendelseife und Puder. Wieder der leichte Windhauch auf der Stirn.
Langsam verblasste das Gefühl von Gerds Nähe. Die Düfte verschwanden. Mit reiner Willenskraft versuchte Irene die Empfindung ihrer Mutter festzuhalten, indem sie die Augen noch fester zukniff. Schließlich spürte sie nur noch den leichten Staubgeruch in der fast leeren Wohnung. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie das wohlbekannte Schlafzimmer, in das das Licht der Straßenlaternen fiel. Erst jetzt realisierte Irene, wie groß der Verlust eigentlich gewesen war. Die kurze Begegnung mit Gerd war tröstlich, aber auch endgültig. Gerd war nicht geblieben, und irgendwo in ihrem Inneren war sich Irene bewusst, dass sie nicht zurückkehren werde. Trotzdem war es ihr gelungen, ihrem einzigen Kind ein Gefühl des Trostes in der Trauer zu vermitteln.
Irene wurde vom Klingeln ihres Handys aus ihren Gedanken gerissen. Im vergangenen Jahr hatte Jenny ihren alten Klingelton, die Marseillaise, durch den Duffy-Hit »Mercy« ersetzt. Einmal abgesehen davon, dass sich Irene nicht so recht mit dem neuen Klingelton identifizieren konnte, gefiel er ihr. Er war zweifelsohne jugendlicher als die französische Nationalhymne.
Es war Krister. Er teilte mit, er werde sich um ein paar Stunden verspäten. Einer der Köche war immer noch krank, und er müsse seine Schicht übernehmen. Dabei ist er doch schon so erschöpft, dachte Irene besorgt, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.
Sie war immer noch von dem leichten positiven Gefühl erfüllt, als sie in die Einfahrt einbog. Kristers Parklücke war wie erwartet leer. Es nieselte wieder, aber Irene hatte sich auf der Heimfahrt den Wetterbericht angehört. Es sollte zeitweilig wieder wärmer werden. Aber bis zum Wetterumschwung würde noch mindestens ein ganzer Tag vergehen. Wer auf etwas Gutes wartet, wartet nicht vergebens, dachte Irene. Das war eines der Lieblingssprichwörter
ihrer Mutter gewesen. Sie hatte eine positive und optimistische Veranlagung gehabt. Vielleicht sollte ich diese Seite in mir etwas mehr bejahen, überlegte Irene selbstkritisch.
Automatisch griff
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