Der im Dunkeln wacht - Roman
was nachlässig hingekritzelt auf dem Umschlag stand. ›2 Mas. 20,5.‹. Ich glaube, es lautet eigentlich folgendermaßen.«
Sie erhob sich, ging zum Whiteboard an der Wand und schrieb mit ordentlichen Buchstaben: »2 Mose 20,5.«
»Natürlich. Dass wir da nicht früher draufgekommen sind. Das macht ja einen riesigen Unterschied«, sagte Jonny und verdrehte die Augen.
»In der Tat. Im zweiten Buch Mose, zwanzigstes Kapitel, Vers fünf, steht nämlich nach der Bibel: ›Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten‹«, sagte Sara ruhig.
Sie las von einem Blatt Papier ab, das sie zwischen ein paar Seiten ihres Notizbuches herausgezogen hatte. Irene sah, dass es sich um ein paar Zeilen eines längeren Textes, eines Computerausdruckes, handelte.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Jonny, jedoch ohne Nachdruck.
Irene war sich ziemlich sicher, dass Sara auf den Kern der Textstelle gestoßen war.
»Wie bist du darauf gekommen ?«, fragte Tommy.
Eine leichte Röte machte sich auf Saras Wangen breit.
»Ich war kurz im Labor, bevor ich hier raufkam … ich wollte wissen, ob es von Matti noch etwas Neues gibt. Da hat er mir
den Umschlag gezeigt. Es dauerte eine Weile, aber dann kam ich drauf, dass es sich um ein Bibelzitat handeln könnte. Schließlich ist man ja konfirmiert. Dann habe ich gegoogelt, und das ist das Ergebnis.«
Im Labor vorbeigehen … vielleicht ließ der ansehnliche Forensiker Sara ja nicht ganz unberührt. Trotzdem musste Irene zugeben, dass es wirklich von Saras Scharfsinn zeugte, die Verbindung zur Bibel herzustellen. Ihr war nicht einmal der Gedanke gekommen.
»Bei Ingela Svensson haben wir keinen Umschlag gefunden, nur das Foto«, dachte Irene laut nach.
» Wahrscheinlich hat sie den Umschlag mit den Ziffern zusammen mit der Blume, die wir auch nicht gefunden haben, weggeworfen. Wir wissen, dass die Mülltonnen in der Såggatan am Dienstag um die Mittagszeit geleert worden sind. Die Beweise liegen also sicher auf der Müllkippe. Das Foto hat sie dann ja erst ein paar Tage später erhalten. Bei Elisabeth Lindberg dagegen wurde beides gleichzeitig abgegeben. Wahrscheinlich wollte der Mörder nicht riskieren, zweimal vor der Wohnungstür seines Opfers gesehen zu werden. Aber auf Ingela Svenssons Umschlag könnte diesselbe Botschaft gestanden haben oder etwas ganz Ähnliches«, ergänzte Tommy ihre Überlegungen.
»Was bedeutet das für unsere Ermittlung? Sollen wir einen alttestamentarischen Rächer suchen?«, fragte Jonny sarkastisch.
»Die Missetaten der Väter rächen sich an den Kindern … vielleicht sollten wir uns Ingela Svenssons und Elisabeth Lindbergs Eltern mal genauer ansehen, eventuell gibt es da Gemeinsamkeiten«, meinte Tommy und ignorierte Jonnys Ton.
»Es geht um Ingela und Elisabeth und nicht um ihre Eltern«, wandte Hannu mit Nachdruck ein.
Irene war geneigt, ihm zuzustimmen. Die Gewalt, die der Mörder seinen Opfern zugefügt hatte, wirkte viel zu persönlich
motiviert. Sie glaubte nicht an die Theorie der Sühne für eine Schuld der Väter. Dennoch mussten sie dieser Frage nachgehen. Andernfalls konnte es fatale Folgen haben, sollte sich später herausstellen, dass ausgerechnet diese Spur zum Mörder führte.
Einige Stunden intensiven Suchens in allen erdenklichen Archiven und Registern waren nötig, bis sie tatsächlich ausschließen konnten, dass die Morde etwas mit den Eltern der beiden Opfer zu tun hatten. Ingelas Familie stammte aus Göteborg und dem Norden der Provinz Halland, Elisabeths Familie kam sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits aus der Gegend von Jönköping und Huskvarna. Und beide Familien hatten sich von dort nicht weit wegbewegt, abgesehen von einigen Amerika-Auswanderern Anfang des vorigen Jahrhunderts. Nichts deutete darauf hin, dass die Familien je miteinander zu tun gehabt hatten oder dass sich die beiden Frauen je begegnet waren.
»Es gibt keinerlei Berührungspunkte«, sagte Irene seufzend.
»Den Mörder«, wandte Hannu ein.
Der kluge Hannu hatte wie immer das Augenmerk auf das Wesentliche gelenkt. Irene richtete sich auf und sah ihre Kollegen an.
»Okay. Was wissen wir über ihn?«, fragte sie.
»Er fotografiert seine Opfer durch die Fenster ihrer Wohnungen«, sagte
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