Der im Dunkeln wacht - Roman
alles reibungslos gelaufen. Aber ihr war im Leben nichts geschenkt worden. Nichts im Leben war gratis. Das hatte sie bereits in ihrer Kindheit im Vorort gelernt. Keiner ihrer Kollegen kannte ihren Hintergrund. Sie
selbst hatte nie etwas preisgegeben. Sie hatte bezahlen müssen, aber auch bekommen, was sie hatte haben wollen. Beispielsweise die neue Wohnung.
Das Viertel war ruhig. Es war fast zehn Uhr, und um sie herum war es vollkommen still. Die Dunkelheit hatte sich über die Kais und die Häuser gesenkt. Ein feuchter Wind, der nach Meer und Dieselkraftstoff roch, kam vom Wasser. Die lauten Motoren einer Fähre der Stenaline kamen rasch näher. Das war ein Geräusch, an das sie sich erstaunlicherweise gewöhnt hatte.
Sie sah zu ihrem Balkon hinauf. Er war nicht sonderlich groß, aber die Aussicht war atemberaubend. Die Wohnung hatte sie relativ billig bekommen. Die Finanzkrise hatte ihre Vorteile wie sinkende Immobilienpreise und niedrige Zinsen.
Sie drückte auf die Fernsteuerung ihrer Zentralverriegelung. Es klickte in der Stille, als alle Türen gleichzeitig verschlossen wurden.
Eine Sekunde später wurde sie sich seiner Nähe bewusst. Er stand dicht hinter ihr. Es war der fürchterliche Gestank. Die Frau in Högsbo hatte recht gehabt, dachte sie noch. Er stinkt. Als er seinen Arm über ihre Brust legte und sie an sich zog, ließ sie die Sporttasche mit dem Polizeiwappen fallen, die sie in der Hand hielt. Mit aller Kraft versuchte sie, von ihm loszukommen. Die ganze Zeit schrie sie aus vollem Hals. Sie hörte, wie er zischte: »Schweig! Schweig!«, aber sie schrie weiter. Er packte sie mit beiden Händen um den Hals, um sie zum Schweigen zu bringen. Ihre Luftröhre wurde zusammengedrückt, und sie bekam keine Luft mehr. War das das Ende? Nein, verdammt, nein!, dachte sie. Sie versuchte, ihm ihre Fingernägel in die Hände zu drücken, merkte aber verzweifelt, dass er Plastikhandschuhe trug, und die waren so dick, dass sie mit den Nägeln nicht durchkam. Sie versuchte, ihm die Handgelenke zu zerkratzen, aber auch das missglückte. Die dicke Nylonjacke hatte kräftige Bündchen. Unter diesen reichten die Handschuhe bis weit über die Handgelenke.
Spülhandschuhe. Verdammt, das sind Spülhandschuhe, schoss es ihr durch den Kopf.
Ein Paar tauchte plötzlich im Schein einer Straßenlaterne auf. Sie hatten einen kleinen schwarzen Pudel an der Leine.
»Hallo? Was soll das? Lassen Sie los! Hören Sie! Sofort loslassen! «, rief der Mann.
Er rannte auf den Parkplatz zu, um ihr zu helfen. Die Frau schrie auch, und der kleine Pudel kläffte aufgeregt.
Plötzlich war es vorbei. Die Beine gaben unter ihr nach, und sie fiel zu Boden. Direkt neben ihr fuhr ein Auto mit quietschenden Reifen an. Ihr stiegen die Auspuffgase in die Nase. Die Steinchen, die von den Reifen aufgewirbelt wurden, stoben ihr ins Gesicht. Komisch, sie bekam immer noch keine Luft. Der Hals. Irgendetwas mit dem Hals. Und dann wurde alles dunkel.
J etzt ist ein Großeinsatz angesagt!«, trompetete Jonny am anderen Ende des Telefons.
Irene war gerade eingeschlafen und vollkommen schlaftrunken. Krister und sie waren nach einem anstrengenden Arbeitstag in Guldheden früh zu Bett gegangen. Ihre Knie schmerzten vom Bodenverlegen, und sie hatte sich zwischen zwei Brettern einen Zeigefinger geklemmt. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach halb elf.
»Was willst du?«, fragte sie seufzend.
Sie hatte bereits erraten, dass es die Arbeit betraf.
»Die Thylqvist ist angegriffen worden! Mordversuch! Rat mal, von wem?«
Irene war plötzlich hellwach. Bevor sie noch raten konnte, krakeelte Jonny in den Hörer:
»Vom Paketmörder!«
»Paketmörder? Woher weißt du das?«
Sie hatte ihre Beine bereits über die Bettkante geschwungen und suchte mit den Füßen nach den Pantoffeln auf dem Fußboden.
»Wir haben die Leine gefunden. Sie lag auf der Erde. Du weißt schon, eine blaue Wäscheleine mit den typischen Schlaufen an den Enden. Er wurde gestört und verlor sie. Stattdessen versuchte er sie mit bloßen Händen zu erwürgen.«
»Gestört? Jemand hat das Ganze also gesehen?«, fragte Irene.
Ihre Hoffnung auf eine brauchbare Zeugenaussage wurde von Jonnys Antwort sofort zunichte gemacht.
»Ja. Ein Paar, das den Hund spazieren führte. Aber die waren
zu weit weg. Sie sahen nur, was wir bereits wissen. Kräftiger Bursche in Arbeitskleidung mit Schirmmütze. Er hechtete in ein Auto und verschwand mit quietschenden Reifen. Sie wussten nicht, um
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