Der Implex
jenen Bürgern, denen sie der entscheidende Politikleitbegriff wurde, nicht als Auslöschung der Unterschiede in der Begabung oder Lebensart der Einzelnen gedacht war, sondern im Gegenteil als Garant für die Möglichkeit, diese Unterschiede angemessen zu leben, weil ohne einen gemeinsamen Maßstab eine Differenz weder setzbar noch sichtbar ist, so war auch die Freiheit von der Zensur nicht etwa äußerliches Zeichen etwa einer metaphysischen Indifferenz, welcher alle Meinungen gleich viel gelten, zwischen denen diese Indifferenz à la Rorty ontische Unentscheidbarkeit und Inkommensurabilität vermutet, sondern vielmehr die Voraussetzung dafür, daß jede Indolenz, die nicht wissen will, was denn nun stimmt und was nicht, in den öffentlichen Belangen nicht mehr mitreden, wichtiger: nicht den Gang der Auseinandersetzung bestimmen kann.
Der Gedanke lautete also niemals: »Alle haben irgendwie recht«, sondern: »Wer tatsächlich recht hat, kriegt man nur heraus, wenn alle sich und ihre Meinungen ungehindert darstellen können.« Voltaire erklärte, sich aus diesem Grund für das Recht seines Gegners, eine Meinung zu vertreten, die ihm zuwider war, nötigenfalls umbringen lassen zu wollen; und Diderot ertrug die Verunglimpfungen, die ihm eine Presse zufügte, für deren Befreiung er stritt, nicht nur mit Gleichmut, sondern mit dem Stolz desjenigen, dem die Geschichte eine existentielle Demonstration seiner liebsten Überzeugungen gönnt.
Im Rückblick mag das so aussehen, als habe man sich seinerzeit um die Aufrichtung einer Art Diskursethik bemüht. Es ging aber, man muß das gegenwärtig halten, nicht allein darum, Regeln für den Meinungsaustausch in der Öffentlichkeit herzustellen (Redezeitbegrenzungen, Rednerlisten, Verbot der Gewalt als Geltungserzwingungsinstrument in der Debatte), sondern zunächst darum, überhaupt etwas zu erfinden, das den Namen »Öffentlichkeit« verdient. Im Feudalismus (anders als an gar nicht so wenigen Orten der Sklavenhaltergesellschaft) war so etwas nämlich nirgends vorgesehen; diskursives Tun und Lassen gehörte den Gelehrten und den königlichen, wenigstens aber adligen Lenkern der Staaten.
Die größte politische Stärke jedes Meinungsfreiheitsprogramms, das sich gegen diese Art Autoritäten wendet, ist der in sie eingenähte Edel-Appell an die menschliche Eitelkeit: Daß es den Leuten schlecht geht, weil sie nicht frei sind, leuchtet allen ein, die glauben, sie wüßten, was ihnen fehlt, und daß die vornehmste Freiheit den Gütern gelten sollte, die im Kopf wohnen und hinauswollen, versteht sich von selbst bei Leuten, die von sich glauben, sie wären gewiß glücklich, wenn man sie nur sagen ließe, was sie meinen, denken, wollen. Daß die Talente zum richtigen Denken und zündenden Ausdruck, die der Meinungsfreiheitsbegriff unspezifisch »den Menschen« zuspricht, womit er alle in Versuchung bringt, sich gemeint zu fühlen, dabei nicht wirklich bei allen gegeben sind, wußten die philosophes indes ganz gut; wir werden später davon erzählen, was für ein Wahrscheinlichkeitskalkül sie dazu brachte, demgegenüber aber davon auszugehen, daß eine richtige Ansicht, wenn sie geäußert werden darf, zahllose verkehrte aufwiegt. Die laissez-faire- Position, die sie für den ihrem Programm gemäß zu schaffenden Ideenmarkt empfahlen, hat als früher Ausdruck des bürgerlichen Liberalismus schließlich aber noch eine andere Kritik erfahren als nur die von uns angedeutete, es werde dabei, was die Qualität der so in Verkehr gebrachten Meinungen angeht, nicht ganz aufrichtig argumentiert – eine Kritik, die sich um das, was da im einzelnen gemeint wird, genausowenig schert wie Voltaire oder Diderot. Denen war die Etablierung der Debatte an sich ein Wert; der illiberalen Kritik dagegen, die wir meinen, ist sie an sich ein Übel: Das unendliche Gespräch, als das sie in der Wirklichkeit erscheinen müsse, sei ein romantisches, kein praktisches und schon gar kein wahres Ideal, Folgenlosigkeit qua Unverbindlichkeit sein Fluch, und wenn Carl Schmitt die deutsche Frühromantik, die sich anders als die dann entschieden reaktionäre späte sehr für die Französische Revolution begeisterte, dafür verspottete, der ganze Ideenwettstreit habe sich letztlich in der Tatsächlichkeitsarena irgendwelcher Zeitschriften ereignet, wo Leute ihre »Kavaliersauffassung« vom Meinungsaustausch unterm »Rektorat schöngeistiger Damen« am Schreibtisch ausgetragen hätten, um deren Ergüsse sich
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