Der Implex
einmal Marx paraphrasierte: »Wer in einer nichtrevolutionären Situation Revolution macht, ist ein Idiot« 146 ).
Zusätzlich kompliziert wird die Sache freilich dadurch, daß der falsche Gedanke wieder mal einer von denen ist, die richtige Folgen haben können: Zwar passiert die Revolution nicht nur dann, wenn sie unvermeidlich ist, muß aber, wenn denn die geschichtliche Erfahrung überhaupt irgend etwas lehrt, offenbar von genügend vielen – und den richtigen – Leuten für unvermeidlich gehalten werden, damit sie passieren kann.
In Wirklichkeit geht es hier, wie so oft, um eine Wahrscheinlichkeitsfrage (wenn alle glauben, die Sache sei unvermeidlich, ihre Wahrscheinlichkeit aber unter 50 Prozent liegt, kommt meistens nichts Schöneres heraus als in Rußland 1905 oder in Deutschland 1919, aber vorher weiß man das nicht immer). In der Interpenetration von Fürwahrhalten und Handelnkönnen steckt nichts Geringeres als die Lösung des alten Voluntarismusproblems, also der Frage, ob man Revolutionen unter Verweis auf unabänderliche Geschichtsgesetze deterministisch beschreiben könne oder es umgekehrt eine reine (kollektive) Willensfrage sei, wann und wie sie stattfinden und verlaufen – das Voluntarismusproblem, in dessen Rahmen sich allerlei Parteien, Fraktionen, Sekten seit Olims Zeiten mal Blanquismus, mal Quietismus, mal Zentrismus und wer weiß was noch für -ismen vorwerfen, stellt meist eine hyperobjektive gegen eine ultrasubjektive Richtung und will dann zwischen beiden ein Spektrum aufmachen, in dem sich revolutionäre Agitation und Politik behaupten sollen. Das Problem ist also von vornherein falsch formuliert, wahrscheinlichkeitsvergessen, sozusagen vorbayesianisch: Wo es um Wahrscheinlichkeiten geht, geht es um große Teilchengruppen und deren Wechselwirkungen; der subjektive Faktor im revolutionären Geschehen ist nicht einfach subjektiv, sondern subjektiv in genügender Menge, über einer kritischen Masse (die überdies auch noch nichtnégligeable qualitative Merkmale hat), deren Vorhandensein oder Abwesenheit aber wieder kein subjektiver, sondern ein objektiver Tatbestand ist, für den es beobachtbare Kriterien gibt – zum Beispiel solche der je gegebenen Kommunikationslandschaft: In einem Flächenstaat ohne hinreichend gut entwickeltes Nachrichtennetz auf Umsturzseite, wenn also die Teilchen vereinzelt sind, die Systeme geschlossen und entropischen Prozessen ausgesetzt, unterlaufen leicht garstige Geschichten wie der vermasselte Aufstand der KPD 1923 (»deutscher Oktober«); Herrschaft, die sich gegen Revolutionen absichern will, wird immer Sorge tragen, daß die bayesianischen Prozesse nicht in Gang kommen, die wir meinen – und auch dieses »Sorge tragen« ist etwas Objektives, die entsprechenden Handlungen werden wirklich vorgenommen, die an der Revolution Interessierten müssen ihnen begegnen, sie brechen. Ob es mediale Plattformen gibt, einen öffentlichen und/oder klandestinen Apparat, eine Organisation in Betrieben, regelmäßige Treffen, ein leidlich verbindliches Vokabular, das die statistischen Prozesse zusammenfassen kann, all das sind objektive Gegebenheiten der Einfassung des subjektiven Faktors ins soziale und politische Gesamtgeschehen, ebenso wie die Frage, ob die Revolution das vorhandene Regiment der Produktion durch eins ersetzen kann, das die Versorgung sicherstellt (und mehr, wenn möglich), ob dafür Infrastruktur und revolutionäres Personal vorhanden ist – je konkreter man wird, desto eher zergeht die Binäropposition hie subjektiv, hie objektiv in etwas, das mehr als zwei Dimensionen hat und die bewährte Triangulation »programmatisch-strategisch-taktisch« erfordert:
Programmatisch: Bereitstellung »symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien« (Luhmann), allgemeine Zweck-Mittel-Ratio, Selbstkonstitution der Revolution als Revolution.
Strategisch: Wie sehen die gegebenen, zu übernehmenden oder zu zerschlagenden Einrichtungen der Staatsmacht aus?
Taktisch: Wann ist Aufklärungsarbeit nötig, wann werden welche Gebäude besetzt, wann stehen die Zeichen auf Vorstoß, wann auf Rückzug?
Schlüsselt man das, was eine Revolution bedingt und was sie leisten muß, nach diesen Kategorien auf, verschwindet das Voluntarismusproblem wie etwa auf abstrakterer Stufe die Frage, ob die Tatsache, daß das, was morgen geschehen wird, morgen geschehen wird, nicht den Fatalismus rechtfertigt (sie tut es nicht, denn aus einer Tautologie kann man nichts
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