Der Implex
Sexualität bezogen, konnten die Arbeiterjugendlichen nicht mehr nachvollziehen und deshalb die Entwicklung nicht mehr mittragen. Vokabular und Aktionsformen der Studenten waren ihnen fremd und konnten nicht auf ihre Praxis übertragen werden.« 185
Der Bruch, der uns interessiert, war demnach vor allem ein inhaltlicher, also die Niederlage bestimmter Ideen (und aus diesen vom Kopf her in Hände, Münder und Füße gefahrener »Aktionsformen«) bei den Lehrlingen. Was für Ideen das waren, sagt der Verfasser Jochen Müller nicht besonders präzise, ihre formale Konstitution als »eine Theorie auf der Grundlage einer Theorie« aber ist so unfreiwillig komisch wie unfreiwillig wahr; hier werden Gedanken über gedachte Gedanken gedacht – die Lehrlinge dagegen, denen die Theorie der Theorie nicht eingeht, haben statt Aktionsformen (bei denen schon der Plural das Farbenfrohe, Unangepaßte verrät) bloß etwas Saures namens »Praxis«. Schaut man das ohne Angst an, geht einem sofort auf, es handelt sich wieder einmal um Arbeitsteilung (Hand/Kopf), um die dieser aufsitzenden Hierarchien und (Stichwort Sexualität) das entfremdete Verhältnis zwischen Produktion und Reproduktion unterm Kapital, das diese Hierarchien neben allen anderen vorstellbaren Lebensäußerungen der Leute regulieren sollen. Was da mitverraten wird, ohne ausgesprochen zu werden, ist wenig mehr, als daß die Redegewandtheit und theoretische Beschlagenheit der Studenten Effekte ihrer sozialen Mobilität, ihrer Muße zum Lesen, ihrer vergleichsweise freieren Zeiteinteilung sind und ihr Kampf in herzwürgender Enge zwischen Zweck und Mittel bald nur noch dem sehr zahmen Zweck diente, diese Spielräume zu erhalten, wenn möglich auszuweiten – »voll auf den Hochschulbereich konzentriert« heißt dieser Gewalteffekt bei Müller –, während die Lehrlinge irgendwann in einen dumpfen, öden, abstumpfenden Arbeitsalltag eingegliedert werden und dann für etwaigen sexuellen, kreativen, antiautoritären Schabernack erst mal keine Zeit mehr haben, bis das Clubwesen und der Ballermann erfunden sind, weil eine internationale Neuorganisation der kapitalistischen Produktionsweise stattgefunden hat (bei Dauvé und Nesic lesen wir die Gruselgeschichte von den ehemaligen Stahlarbeitern der deindustriellen Region Département Moselle, denen der Freizeitpark »Walibi« anbot, gegen Entgelt in Schlumpfkostümen zwischen Touristen herumzutrotteln; das ist, ein paar Krisen- und Stabilisierungszyklen weiter, aus den spielerischen Protestformen und irritierenden Umzügen der Studentenbewegung geworden; und Rainer Langhans darf im Frühjahr 2011 endlich ins deutsche Fernseh-»Dschungelcamp«).
Die Arbeitswirklichkeit der Klassengesellschaft treibt einen Keil zwischen zwei aufbegehrende Kollektive; der Analytiker jedoch redet von Verständigungsschwierigkeiten. Wir wollen den sich in solchen Momenten ganz greifbar ausprägenden Hang, Gewaltfolgen aus Geschichtserzählungen herauszueskamotieren und politische Prozesse statt historisch lieber ideologisch zu betrachten, spaßeshalber »Angsthegelianismus« taufen; er kommt (wie jede Spielart des Hegelianismus) auch in sich selbst als marxistisch mißverstehenden Argumentationsgängen häufiger vor, als man glauben sollte. Nicht einmal der Stammvater selbst ist mutmaßlich ganz frei davon: Ließe sich nicht mit Gewinn fragen, ob die Aufmerksamkeitsverschiebungen beim späten Marx fort von den Klassenkämpfen und hin zu logischen Verzwicktheiten der Profitratenentwicklung, organischen Zusammensetzung des Kapitals und anderen Arkana eine Gewaltfolge sind, i.e. ein Punkt, an dem jener sonst so unbestechliche Autor auf Umwegen zerschlagener Hoffnungen gedenkt, ohne sie denunzieren zu wollen – wird man wissenschaftlich und philosophisch, überarbeitet und überschreibt man die einst als Handlungsermächtigung konzipierte eigene Interpretation der sozialen Welt, wenn und weil man sich nicht hat verändern können? Wirft dieser Ablauf nicht lange Schatten voraus auf die Geschicke der Kritischen Theorie, des strukturalen Marxismus, auch der Moskauer Staatsmarxologie? Brechts Parole dagegen erhebt keinen Anspruch auf wissenschaftliche Richtigkeit oder philosophische Gediegenheit, und gerade das suggeriert, daß die, die sie ausspricht, weiß, was sie will; das meinen wir mit »stolzer Widerrede«.
Zum zweiten Punkt, der eroberten Symmetrie: Das Verhältnis zwischen Menschen, das den Namen »Herrschaft« verdient, ist
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