Der Implex
Gewehren und anderen Zwangsmitteln gesäubert; ist die Sowjetunion perdu, so wird der Marxismus schon falsch gewesen sein. Da Wegsehen und Verstummen bei Intellektuellen sehr beredt werden können und selbst das törichste Argument bei ihnen nicht ohne stummeldialektisches »einerseits-andererseits« auskommt, werden, sobald diese These einmal ausgesprochen ist, zu ihrer Befestigung augenblicklich allerlei tatsächliche Fehler, Unstimmigkeiten, Makel, angreifbare Attribute und dergleichen in der Politik, dem Habitus oder auch nur dem historisch gewordenen Erscheinungsbild der Unterlegenen angekarrt, wirkliche wie scheinhafte, und vergessen – Wegsehen, Verstummen – wird dabei geflissentlich, daß so etwas immer und überall geht: Die beklaute Schülerin hätte ihr teures Handy ja auch zuhause oder in der Jacke lassen können, in der jüdischen Gemeinde, in deren Stadt Goebbels vor 1933 zum Angriff bläst, gibt es tatsächlich Bankiers, Juweliere und politisch einflußreiche Leute vom Diplomaten bis zum Polizeichef. Nicht einmal der verrückteste Antisemitismus aber ist umgekehrt etwa durch das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs widerlegt (diejenigen, die so ein Ereignis brauchen, bevor sie dieser Lehre zu mißtrauen beginnen, darf man vielmehr zu den schlimmsten Nazis rechnen); das ganze Geschichtsbild, in dem dergleichen »Widerlegungen« gedacht werden, tut so, als hätten Bolschewiken oder Nazis ungestört von allen Außeneinwirkungen wacker vor sich hin experimentiert, bis ihre jeweiligen Projekte in sich zusammenbrachen. Solche Leugnung gewaltsamer Vorgänge ist stets selbst Gewaltfolge; die Leute, die sie in Umlauf bringen, stehen unter der Fuchtel (etwa der freiheitlich-demokratischen, der zuliebe man Konstrukte wie die sogenannte Totalitarismustheorie lehrt und lernt).
Minder grelle Beispiele, in denen Gewalt etwa auf die berühmten »Sachzwänge« der Ökonomie reduziert wird – die Drohung mit dem Verlust der Wohnung, des Versichertenstatus, des Arbeitsplatzes und ähnliches lebt ja nicht von psychischen Energetika allein, sondern davon, daß es eine Polizei, einen Werkschutz, einen Gerichtsvollzieher und dergleichen gibt –, verdeutlichen, daß die sagenumwobene »strukturelle Gewalt« einfach zur Hexis geronnene Gewaltpraxis ist (dieses »Geronnensein« ist selbst wieder eine gewaltfolgenexstirpierende Metapher; wir meinen Abrichtung, Dressur). Der Vorgang mag für sich genommen vorpolitisch sein; er lappt ohne größere Anstrengungen der Gewalthaber und ihres Apparats schnell ins eigentlich Politische:
Immer wieder begegnen wir Überlebenden der studentischen Protestbewegung, APOistinnen, 68ern, wie immer man diese Leute nennen will, wer gemeint ist, weiß man ja – und wenn wir die nun fragen, warum es in jener Zeit keine entschlossene Rückbindung der neu aufflammenden Kämpfe an die Spuren der Streiks in den Fünfzigern oder der DGB-Erfahrungen im Umfeld der Agartz-Verfolgung gegeben zu haben scheint, wenn wir sie außerdem fragen, warum die in entsprechenden Aufzeichnungen seltsam unterkomplex behandelte, nicht recht konturenklar ausgeleuchtete, im Rückblick aber doch hochspannende Phase der propagandistischen wie praktischen Zusammenarbeit von einerseits Lehrlingen, Gewerkschaftsbetriebsgruppen sowie sonstigen Lohnabhängigenverbänden und andererseits der aus dem Kampf gegen Wiederbewaffnung und Notstandsgesetze hervorgegangenen Außerparlamentarischen Opposition nicht konsolidiert werden könnte, dann äußern diese Menschen Ansichten, die der Behauptung »1989 bis 1993 ist der Marxismus widerlegt worden« merkwürdig ähneln, insofern sie nämlich mit Vorliebe und Ausdauer von der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit irgendwelcher Ideen reden, wo statt dessen weitaus realistischer von Kräfteverhältnissen zu reden wäre. Haben sie die Heilige Johanna vergessen?
Ein schönes, weil lehrreiches Beispiel für das, was wir meinen: Da liest man in einem Text, den ein Beteiligter zehn Jahre nach 1968 aufgeschrieben hat, die Lehrlings- und Betriebsleute hätten sich bedauerlicherweise von der APO verabschiedet,
»als sich der studentische Kampf voll auf den Hochschulbereich, angeführt von den SDS-Gruppen Berlin und Frankfurt, konzentrierte. Die hier aufbrechenden inhaltlichen Forderungen (Hervorhebung von K/D), die sich auf eine antiautoritäre Theorie auf der Grundlage einer kritischen Theorie und der neuen und wiederaufgetauchten Literatur zu Fragen der Autorität, Repression und
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