Der Implex
Wissenschaft und Politik wollte wie sie, brauchte dazu Menschen, was die Vollbürger der alten Staaten eine Zeitlang gewesen waren und was einige der neuen Bourgeois sich gerade anschickten zu werden: 1. »ihres eigenen Glückes Schmied« (wir wiederholen: nicht erpreßt, nicht erpreßbar, ehrenhaft), 2. mit genügend Zeit und Muße für Wahrheitsfindung, Selbstverwaltung, Schönheitsgenuß beschenkt – im Fall der Antike beruhte dies alles auf Sklavenhalterei, das heißt, das Mehrprodukt über das zur Erhaltung der Sklavenarbeitskraft hinaus Erwirtschaftete wurde als Aufwandsersparnis der Existenz an deren Herren und ihre frei Affiliierten, ihre Fachleute, auch ihre Philosophen weitergegeben; bei den Bourgeois zur Zeit des Absolutismus zeichnete sich ab, daß der Ersatz hierfür das kapitalistische Lohnarbeitsverhältnis würde werden müssen, das heißt, das Mehrprodukt, das von Leuten erwirtschaftet wurde, denen man vorher, im Zuge der brutalen, oder wie die Ironie sagt: »idyllischen Prozesse« (Marx) der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, jede Möglichkeit genommen hatte, mit ihren eigenen Produktionsmitteln ihrerseits nichterpreßt und unerpreßbar zu wirtschaften; verjagte Gemeinde- und von der Stadt aufgesaugte Kleinstbauern, Handwerksleute und andere proletarisierte Menschen. Das Begründungsloch im sozialen logon didonai der Vernunftbestimmungen der Aufklärer wird verdeckt dadurch, daß sie für natürlich erklärten, was historisch geworden war; Marxens komplettes Lebenswerk ist nichts anderes als ein Versuch, dieses Loch als Leidensquelle zu benennen und die Menschen dazu anzuleiten, es praktisch-politisch zu stopfen. Ermöglicht war ihm das, und hier verhält sich der Implex einmal wirklich wie der Weltgeist des objektiven Idealismus, ausgerechnet durch einen wesentlich philosophischen Vorbereiter, nämlich Hegel, der auf dem Gipfel jenes objektiven Idealismus die Natur ganz allgemein als einen bloßen Sonderfall der Geschichte aufzufassen lehrte und so die Bahn für einen grundstürzenden Historismus freigemacht hatte. Alle Philosopheme der philosophes und ihrer niederländischen, deutschen, angloamerikanischen Vorbereiterinnen, Wegbegleiter, Zeitgenossinnen waren zuvor darauf angelegt worden, auf das Fundament einer prima philosophia zurückzuverweisen, die man paradoxerweise erst konstruierte, wobei man aber nichts daran fand, zugleich zu glauben, sie müsse allem anderen Denken vorgeordnet sein – Gewißheit, ein Fundament im vernünftig Natürlichen, sollte die theologischen Fundamente zugleich sprengen und ersetzen. Hegel erst war darauf gekommen, daß man einen Anfang auch nicht als Rückprojektion brauchte; man fängt mit dem an, was man hat, das absolute Wissen ist eben nicht der Ausgangspunkt, sondern das Ergebnis der Wahrheitenproduktion, und es wird arbeitsteilig errungen (das meinen, im sozialen Grund, die verschiedenen Weltaneignungsweisen bis hin zur Kunst und Religion bei Hegel, die Marx dann ins Gesellschaftliche zurückübersetzte. Luhmanns Theorie sozialer Systeme beschreibt die arbeitsteilige Geschichte dann wieder – auf höherer, mit mehr geschichtlicher Erfahrung angereichert – als Begriffsgeschehen, bei ihm: Kommunikationsgeschehen, weil er ganz richtig, gut hegelianisch mit seiner eigenen Position in der erreichten Arbeitsteilung anfängt, als Begriffsarbeiter eben; für Robert Brandoms Inferentialismus und die Implikaturtheorie von Paul Grice gilt ähnliches: Das Eingebettetsein von Bedeutungsherstellung in soziale, für diese Denker: kommunikative Prozesse sucht einen Vernunftbegriff ohne Absicherung durch etwas außerhalb des Raums des Begründens und Begreifens, weil eine »natürliche« Vernunft nicht erreichbar ist, die man aber geschichtlich durchaus setzen mußte, um sie sozial je erreichen zu können).
Sämtliche sogenannten Geistes- und Sozialwissenschaften bilden zusammen den Versuch, den Säkularisierungsschritt von der Theologie zur Philosophie eine Ebene höher (oder tiefer, oder einen Zirkel weiter draußen oder tiefer drinnen: Die Implextopologie aus dem achten Kapitel bleibt kontraintuitiv) zu wiederholen, und es ist erhebend, rührend und ein bißchen deprimierend, mitanzusehen, wie dabei immer wieder versucht wird, alle Spuren des Idealismus (manchmal unter seinem pejorativ-positivistischen Tarnnamen »Metaphysik« geführt) zu tilgen, die dennoch immer wieder auftauchen müssen, solange eben beispielsweise das politische Menschenrecht nicht
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