Der Implex
man in manchen Einzelwissenschaften eine Theorie als ein System von Sätzen darstellen kann, folgt nicht, daß man berechtigt wäre, die Gesamtheit der Sätze, mit denen man es zu tun haben könnte, auch nur annäherungsweise als Beginn eines endgültigen und vollständigen Systems aufzufassen.« 219
Das auf dem Kontinent Erarbeitete dann auszubauen zu Apparaten, die philosophisch-literarische Conqueror- Aufgaben erfüllen konnten, blieb dann den englischen Imperialisten und ihren amerikanischen Nachfolgern vorbehalten.
Vernunft heißt außer Universalismus allerdings stets auch Praxisdenken – daher etwa das Schwanken des in umfänglichen Praxisphantasien schwelgenden Nietzsche, das ihn zum präzisen Philosophen des schwankenden Deutschland mit seinen unsicheren Zentralmachtambitionen entspricht: Mal rückt er der Kirche und den Feudalitätsresten mit geradezu aufklärerischer Verstandesschärfe zu Leibe, mal feiert er dionysisch das weggeschmissene Hirn, das dem Blutsumpf des Mehrfrontenkriegs entspricht, den Hitler schließlich führen wird.
Georg Lukács hat den ganzen Zusammenhang verengen müssen, um behaupten zu dürfen, die Vernunft gehe nicht mit dem Aufstieg, sondern, enger: mit dem sozialen Fortschritt; die Reaktion sei immer vernunftfeindlich. Die erfolgreiche Reaktion kann vernünftige Züge haben und die Vernunft als Wert bejahen; in die Ecke gedrängter Fortschritt kann sich anders nicht zu helfen wissen als mit der Parole, das Hirn sei wegzuschmeißen: Es treten häufiger Mischzustände auf, als man meint, und wenn man etwa den lustigen Beatnik Ginsberg im Fernsehstreit mit dem brillanten Erzreaktionär William F. Buckley betrachtet, kann man gar nicht schnell genug blinzeln, alle fliegenden Wechsel mitzubekommen, in denen die Rhetorik des triftigen Schließens mal vom einen, mal vom anderen gebraucht wird, dann umgekehrt mal der eine, dann der andere religiös oder parareligiös wird, und doch keine Sekunde ein Zweifel besteht, welcher der beiden Kontrahenten auf der Linken ficht (der Dichter nämlich, der den Vietnamkrieg ablehnt und dafür ein breites Spektrum von Gründen nennt, von denen einige hochvernünftig, andere, sagen wir: sehr stimmungsvoll und jedenfalls fernöstlich sind). Hippies für Logik, Theologinnen, die dem Marxismus Obdach gewähren: Platt darf man nicht sein, und undialektisch auch nicht, wenn man die Ideengeschichte studiert, und natürlich hilft der Lukácssche Leitfaden dabei so gut wie der von Unterscheidungen der Sorte Materialismus/Idealismus, aber eben nur dann, wenn man nicht vergißt, was ein Leitfaden ist, nämlich nicht die Sache selbst, durch die er führt.
Der Positivismus, also der allen vernunftverschärfenden, vernunftlobenden, schließlich (da war die Vernunft, welche die lumières und das neunzehnte Jahrhundert gekannt hatten, schon in der weltweiten Defensive, in der sie immer noch herumkrabbelt) vernunftrettenden Versuchen der letzten 120 Jahre nahestehende Ansatz, mögliche Aussagesätze einzuteilen nach wahren, falschen und bedeutungslosen (nämlich von keinem truthmaker aus der Wahrnehmungswelt zu erreichenden), tritt aus der Erfolgsgeschichte der Einzelwissenschaften gleichsam als Angebot der Philosophie hervor, ihnen dabei behilflich zu sein, eine Sorte Begriffsmaschinen zu bauen, die in den Einzelwissenschaften (hier: Physik und Soziologie, wie Mach und, sagen wir: Durkheim sie verstanden) bereits gebräuchlich waren – dankbar angenommen von Schlick und dem Wiener Kreis, in eine erste Krise geführt von Wittgenstein, gegen diesen mit Mühe befestigt von Popper und dann als eine Art avantgardistischer Ausweich- bis Rückzugsbewegung (i.e. besonderer Radikalität im Anspruch, die in dem Moment riskiert wird, da dem Anspruch selbst und seiner Verwirklichung immer mehr und immer schwerer Wiegendes entgegensteht: eine sehr typische paradoxale Form der Selbstverpflichtung moderner, modernistischer Avantgarden) in immer fundamentalere Fragen zur angloamerikanischen Riesenarchitektur der analytischen Philosophie(n) ausgebaut, hat dieses Angebot in seinen Schicksalen die Vernunftgeschichte von der Renaissance bis zur ersten Formulierung eines Positivismus noch einmal in einem Drittel der Zeit wiederholt, worin sich mehr ausdrückt als nur eine Teilhabe an allgemeinen Beschleunigungen, nämlich ein gehetzter, mitunter fast verzweifelter Sog, der von gewissen erwünschten Ergebnissen, als Endzuständen erwünschten Begriffsaggregaten ausging, noch
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