Der Implex
erster großer Wurf der Denkrichtung, die wir meinen, war die Essaysammlung Geschichte und Klassenbewußtsein von Georg Lukács aus dem Jahr 1923, erschienen zu einer Zeit, als die Quellen dessen zu sprudeln begannen, was später »Kritische Theorie« heißen sollte (tatsächlich gab Horkheimer der Sache drei Lustren später ihren Namen), im Jahr des zweiten (und heute weithin vergessenen) fehlgeschlagenen deutschen sozialistischen Revolutionsversuchs. Sechs Jahre vorher war ein russischer geglückt; die Lage bot sich eigentlich dazu an, den Marxismus weniger für unfehlbar als vielmehr schief zu halten, war doch das konkrete Aktionsprogramm von Marx und Engels, das eine siegesgewisse Arbeiterbewegung voraussetzte und die Revolution in hochindustrialisierten Gegenden urgierte, weder umgesetzt worden noch vollständig gescheitert – vieles stand gleichsam auf einer Kippe, auf der es festzufrieren drohte: Revolution ja, aber ganz anders als von den Klassikern gefördert, gefordert, erwartet und erhofft, was sollte man damit machen? Die Klemme für etwas zu halten, das mit der von Lukács erfundenen Literaturgattung »Marxismus nicht als offizielle Staatsdoktrin eines sozialistischen Industriestaats, sondern als vollendetes Erbe der abendländischen Philosophiegeschichte« korreliert ist, dürfte kein Fehler sein. Sieht man sich die Denkgesten genauer an, mit denen Lukács sein Geisteskind aus der Taufe gehoben hat, das er, dem nicht nur positivistischen (sondern etwa auch freudianischen sowie dem in der Bau- und Tonkunst vorwaltenden) Zeitgeschmack gemäß, zwar öfters »Wissenschaft« nennt, aber zugleich nicht in eine empirische, induktive, am Detail modellbildende Forschungstradition, sondern in die der linken, emanzipatorischen Philosophie stellt, als deren Abschluß und Überwindung, so fallen Merkwürdigkeiten auf, die man damals nicht gesehen hat, die heute aber grell aus dem Text hervorstechen – der berühmte Luxemburgaufsatz im epochemachenden Werk etwa beginnt mit dem erstaunlichen Kanzelwort:
»Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat.« 242
Was die neue Wissenschaft von der bürgerlichen unterscheidet, ist also ausgerechnet etwas, das sie mit einem urbürgerlichen Philosophen gemein hat – kann das sein Ernst sein? Warum dann nicht gleich zu Hegel zurück? Wegen der »konservativen Inhalte Hegels« – die nun aber »nicht einfach durch die materialistische Umkehrung« beseitigt wurden
– »Vielmehr konnte in und durch diese Umkehrung das revolutionäre Prinzip der Hegelschen Dialektik nur darum zum Vorschein kommen, weil das Wesen der Methode, der Gesichtspunkt der Totalität, die Betrachtung aller Teilerscheinungen als Momente des Ganzen, des dialektischen Prozesses, der als Einheit von Gedanken und Geschichte gefaßt ist, aufrechterhalten wurde« –
abgesehen davon, daß sein Deutsch auf die Reise, auf die er den Gedanken schickt, wohl nicht mitwill (»In und durch diese Umkehrung«), scheint der Einfall etwas sagen zu sollen wie: Wenn Hegel nur seine Totalität durchgehalten hätte, wäre er über seine konservativen Inhalte hinausgeschossen und Marx geworden. Das ist nach mehreren Seiten unplausibel – erstens kann man die »Dialektik der Dialektiken« zwischen Hegel und Marx, weil es sich eben nicht um bloße Filiation handelt, sondern um eine Implexbeziehung, genau andersherum sehen (was Adorno später ja auch wirklich getan hat), nämlich so, daß Marx gerade das Besondere gegen das Allgemeine, die Widersprüche gegen deren von Hegel gewaltsam dekretierte Versöhnung im idealistisch postulierten Absoluten zur Geltung gebracht hat. Zweitens wird Lukács sowenig wie irgendwer besonders viel Glück haben beim Versuch, Hegel ausgerechnet mangelnde Loyalität zum Absoluten und zur Totalität nachzuweisen, welche beide vielmehr von der Phänomenologie des Geistes bis in die Geschichtsphilosophie und die Ästhetik unangefochten sein gesamtes Kopfuniversum regieren. Drittens schließlich hätten Marx und Engels sich eher nicht bedankt, wenn man ihnen dazu gratuliert hätte, daß sie die materialistische Umkehrung des Idealismus durch
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