Der Implex
Untersuchung der Geschichte und der Praxis ihrer Zeitgenossen vor allem zu dem Zweck und mit dem Erfolg einer Bestätigung des Hegelschen Totalitätsgesichtspunkts vollbracht hätten statt, was ihnen doch viel näher lag, zum Zweck und hoffentlich mit dem Erfolg der Abschaffung der Totalität aller vorgefundenen Verhältnisse, in denen, wie Marx sagt, der Mensch ein verächtliches Wesen ist (und das war er, wer »er« immer sonst gewesen sein mag, nun in der Tat in der Totalität der gesamten bisherigen Geschichte, die eben deshalb gesprengt, deren Totalität zerstört statt angestaunt werden sollte).
So unbeholfen indes der hochmögende Denker die Leistung vollbringt, Marx dafür zu loben, daß er die Totalität, die frühere Denker als Marx, bei denen es den Totalitätsgesichtspunkt natürlich auch gab (warum sonst hätten sie Systeme gebaut), aus – hier liegt der Hund begraben – von Lukács verächtlich angesehenen normativen Vorgaben holten (das berühmteste, unausgesprochen von jeder Linken seit Voltaire immer zürnend mitgedachte Beispiel ist der arme mißverstandene Leibniz), erstmals zum denormativierten, ontologisierten, leitenden Gesichtspunkt von historischen und ökonomischen Analysen gemacht zu haben, so überzeugend in sich selbst, als Beispiel einer impliziten Kohärenztheorie der Wahrheit, ist seine Reinterpretation der Marxschen Lehre als Grundriß einer anderen Art Philosophiegeschichte, die mit Marx beginnt und bis in unsere Gegenwart folgenreich geblieben ist. Ihr verdankt die Welt einen Marx, der am allerwillkommensten da ist, wo der lebendige nie eine Anstellung erhalten hat: an der bürgerlichen Universität.
Wir wollen damit nicht dem bekannten und billigen linken Akademiehaß Zucker geben; im Gegenteil gefällt uns gerade an den humanwissenschaftlichen Abteilungen, daß da immerhin noch ab und zu sozialisiert (und freilich auch verflacht) wird, was Privateigentümer ihres Hirns wie Lukács, Peirce oder Schopenhauer so gedacht haben, während doch normalerweise der Fall umgekehrt liegt und etwa eine Internettechnik öffentlich bezahlt, von Militär und staatsgestützter Forschung entwickelt und anschließend von Privatprofiteuren angeeignet wird. Dem Hang der amtlichen Gelehrten aber, jemanden wie Marx zu einem der ihren zu machen, indem ihm Ziele unterstellt und Errungenschaften gutgeschrieben werden, die jene haben oder gern erreicht hätten, soll man selbst da entgegentreten, wo er sich so einnehmend äußert wie in der 2005 erschienenen umfangreichen, gründlichen und klugen Monographie Philosophie nach Marx von Christoph Henning. Der Verfasser, von Beruf Kulturwissenschaftler, schreibt die fragliche Theoriegeschichte so, daß Marx sich, um zum seinigen zu gelangen, vor allem abgrenzend und polarisierend mit normativ orientierten Leuten wie Moses Hess, den ethischen Kommunisten, wahren Sozialisten, Junghegelianern und so weiter habe herumschlagen müssen, um schließlich eine Lehre zu gebären, die bei Henning nun nicht mehr, wie noch bei Lukács, wissenschaftlich heißen muß, sich aber von nichts, auch nicht der Wissenschaft, so sehr unterscheide wie den ethisierenden und normativistischen Gedankengebäuden, von denen sie sich emanzipiert habe, und den wiederum ethisierenden und normativistischen Reaktionen, die auf sie erfolgt seien und noch bis dato erfolgten:
»Der Vorstellung einer reduktiven materialistischen Weltanschauung, die man sich von der Marx’schen Theorie gemacht hatte, stellte man daher scheinbar zweckmäßig eine ethische Weltanschauung gegenüber – die Geburt der ›normativen Sozialphilosophie‹ aus dem Geist einer fehlgehenden Polemik. Noch heutige sozialphilosophische Entwürfe teilen diesen normativistischen Charakter, auch wo ein funktionaler Antimarxismus nicht mehr oder kaum noch erkennbar ist.« 243
Dieser Normativismus leide grundsätzlich an einer »konservativ-quietistischen Schlagseite« 244 , womit gemeint ist, daß Leute, die bei ihren Überlegungen zum Zustand der Sozietät von dem ausgehen, was sein soll, statt von dem, was ist, der berühmten »normativen Kraft des Faktischen« bei aller eingebildeten Distanz von ihm noch schneller und leichter erliegen als etwa der verschlagene Opportunist oder die naive Realistin, weil Denken immer heißt, das zu verneinen, zu kritisieren, wovon man ausgeht – wer sich also auf das stütze, was sein soll, werde in Absetzung davon bei dem ankommen, was ist, und von ihm bezwungen werden, ein Unfall,
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