Der Implex
waren nicht die Atheisten, sondern die Deisten die fleißigsten Naturforscher und so fort).
Wahr ist aber auch, daß die Aussagendignitätsordnung, die wir skizziert haben, ein zeitlich und räumlich recht eindeutig lokal zuzurechnendes Phänomen ist: Die meiste Zeitspanne der aufgezeichneten Geschichte über, und an sehr vielen Orten heute noch, auch mitten in den reichen Zentren, interessierte und interessiert sich kein Mensch für den Energieerhaltungssatz, das astronomische Bewegungsverhältnis zwischen den uns auffälligsten Himmelskörpern oder die Natur der Verbrennung. Das alles hätten, soweit es um den Beobachtungs-, Denk- und vielleicht noch Versuchsaufwand dabei geht, schon die ältesten Hochkulturen herauskriegen können (und Ansätze dazu findet man immer wieder bunt in Raum und Zeit verstreut), ernsthaft ermittelt, systematisiert aber wurde es erst nach Einführung der neuzeitlichen exakten Wissenschaften. Wahrheiten, wollen wir sagen, müssen so sehr wie alles andere, was Menschen hervorbringen, organisiert werden; es besteht, auf sehr viel profanere Weise, als der jüngere Sozialkonstruktivismus und die Feyerabendsche fringe der science studies eher andeuten denn sagen, tatsächlich ein recht intimer Zusammenhang zwischen einer Gesellschaft, die weiß, wie man epigenetische Hirnmuster liest, wie sich das Herz des Zebrafischs selbst regeneriert, welche bakterienproduzierten Moleküle unserem Immunsystem helfen oder wie man einen Kevlarhelm herstellt, und einer Gesellschaft, in der klinische Versuche mit Medikamenten, Freisemester für Forscherinnen und kommerzielle Anzeigen für biochemische Firmen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften existieren und auf ganz bestimmte Art und Weise geregelt sind – daß diese beiden Gesellschaften ein und dieselbe sind, muß nicht so sein, ist aber, wenn es so ist, kein Zufall, sondern ein Muster, über das sich selbst wieder nicht nur genealogische, sondern auch strukturfunktionale wahre Aussagen treffen lassen.
Was wir vergleichsweise wohlhabenden und freien Leute, während dieses Buch entsteht, über die Beschaffenheit des Lichts, die Heilbarkeit von Malaria, die Folgen von Generationswechseln bei Braunalgen, die Viabilität von Versuchen, dicht besiedelte Flächenstaaten ökonomisch autark zu versorgen, oder die Simulation von Hirnvorgängen durch Computer wissen oder wissen können, ist richtiger als das, was über diese Gegenstände (falls man sie überhaupt hätte benennen können: Wissenschaften sind nicht nur Aussagen über Gegenstände, sondern konstituieren auch selbst welche; am allerheikelsten ist die Unterscheidung zwischen den Gegenständen und ihrer Untersuchung bei der wichtigsten Hilfsdisziplin aller exakten Forschung, der Mathematik) vor hundert, zweihundert, tausend oder achttausend Jahren gewußt wurde. Der Grund dafür, daß wir es wissen können, ist nicht, daß es richtig ist und deshalb herauskommen mußte, genügend Zeit vorausgesetzt (die das behaupten, haben nie die geringste Schätzung vorlegen können, wieviel denn »genügend Zeit« eigentlich ist), sondern weil es ein gesellschaftlich ausdifferenziertes Funktionssystem Wissenschaft ist im Sinne dessen, was Galilei, Newton, Bacon, Einstein, Darwin darunter verstanden haben: Dieses (nicht irgendeine andere Menschengruppe wie etwa die Amazonasindianer, Klerikerinnen, Amateurfunker, Hexen, Künstler) hat alles herausgefunden, was wir aufgezählt haben.
Leute, in deren Köpfen die Marxlektüre mehr Schaden als Nutzen gestiftet hat, werden an dieser Stelle etwas von der historischen Gebundenheit dieses Funktionssystems Wissenschaft an die kapitalistische Erzeugungsweise von Waren hören wollen oder, if not obliged, selbst erzählen: Das Kapital (wenn die Damen und Herren Marxgläubigen ihren Marx noch deftiger übermarxen wollen, fallen sie ganz hinter seinen komplexen Materialismusbegriff zurück und sagen: der Kapitalist) braucht die zyklopischen Maschinen der großen Industrie, der Profit verlangt außer der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft auch die der Natur, dafür brauchen wir Forschung. Ein bißchen großherziger und ein bißchen vernünftiger als diejenigen, die solchen Banalökonomismus lehren, sind da schon jene, die begreifen, daß die Förderung der Wissenschaften durch das sich emanzipierende Bürgertum nicht nur Techniker, Ingenieure und gegebenenfalls deren Ausbilder braucht, sondern darüber hinaus nicht ganz absichtlich, ja nicht einmal ganz freiwillig
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