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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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wirklichkeitstauglicher. Natürlich ist die Revolution, ist auch das »Revolutionäre« als euphorische Kehrseite der Krise im manisch-depressiven Gesamtirrsinn des Kapitalismus ein Thema für die Künste, aber keineswegs eines, das sie auf Expressivität oder Romantik festlegen müßte, im Gegenteil: Gerade wenn die Umwälzerei am sprunghaftesten, chaotischsten, gefährlichsten und schrillsten vor sich geht, können die Kunstschaffenden es sich zum Ehrgeiz machen, sich besonders nüchtern und klar, konstruktivistisch oder photorealistisch zur Welt zu verhalten, da führt eine gerade Linie von David zu Warhol. Die Kälte in Schwarz und Gold des Bildes vom toten Marat hebt mehr Pathos auf als das wildeste Geschmier; und daher hat T.J. Clark den Tag, als dieses Bild im zweiten Revolutionsjahr der Öffentlichkeit enthüllt wurde, zum Geburtstag der Moderne in der Kunst erklärt, allerdings mit dem schönen dialektischen Stachel, der Erklärung hinzuzufügen, er habe dieses Datum nur gewählt, weil man dann wenigstens nicht übersehen könne, daß diese Zäsur eine ausgedachte, gesetzte, keine natürliche oder authentische sei (die Geste ist selbst modern, man stellt lästige und witzlose Ursprungsdiskussionen einfach ab, indem man sie durch Setzung entscheidet, indem man »den Mut« beweist, sich »seines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines andern zu bedienen«). Der 25. Vendémiaire des Jahres 2 (also der 16. Oktober 1793) wird zum Wegstein für die Entwicklung der Haltung zur Welt, die David zeigt, und die paraphrasiert etwa besagt: »Wir sind uns so klar über das, was wir als Revolutionäre hier angestellt haben, daß selbst unsere Katastrophen und Tragödien von uns angeschaut werden können, ohne daß wir blinzeln oder zusammenzucken.«
    Das welterschaffende Vermögen und Tun der Künste erhält mit der Haltung »Man kann die Dinge auch so sehen, wie sie wirklich sind« einen neuen Dreh, und damit ist der Tag nicht fern, an dem nicht nur ein Mordopfer wie ein Mordopfer aussieht, sondern ein Strich eben ein Strich, eine Farbe eben eine Farbe, ein Sound ein Sound ist. Insofern das »metaphysical value judgment« der Künste also auf einmal auch lauten kann: »Wir lehnen es ab, ›metaphysical value judgments‹ zu treffen«, neigen diejenigen, die sich ihnen am konsequentesten hingeben wollen, auch zur Abschaffung der Kunst mittels Kunst (ich tröste dich, indem ich dir sage, es gibt keinen Trost, es ist wirklich alles schlimm).
    Anstatt zu sagen: »Es gibt keine richtige Haltung zur Welt«, können Künstlerinnen und Künstler jetzt allerdings auch sagen: »Es gibt keine Welt«, und damit doch etwas ganz anderes meinen als die Neopyrrhoniker – »The Marat is not a picture that shows us shifts and uncertainties ending up swallowing the world, or making the concept ›world‹ redundant (It leaves that to later brands of modernism)«, schreibt T.J. Clark, und dann aber:
    »Matter is stubborn, or at least predictable, and goes on resisting the work of modernity. Even the proud inscription ›year two‹ is provisional. The numbers 17 and 93 are still to the left and right of it, only half erased, seemingly stuck to the wood of the orange box, as if David had tried to make them vanish but been defeated by his own materials. Technique is a perfidious thing, says the painter, but at least a hedge against the future. Anno Domini will doubtless return.« 271
    Wir Modernen werden, heißt das, die Geschichte, das Erbe auch unter der Fuchtel des sich ständig selbst neu hervorbringenden und dann wieder auslöschenden novum nicht los, weil ebendiese Kette der Hervorbringungen und Auslöschungen wieder Erbe, ästhetisches Mehrprodukt anhäuft – Lenin 1901 über die Frage, ob man im Zuge der Revolution auf die Wissenschaft und Kunst, die das alte, abzuschaffende Unrechtssystem hervorgebracht hat, verzichten, sie zerschlagen, durch Proletkult ersetzen, kulturrevolutionär schleifen sollte, ob also das revolutionäre Tun notwendig sei, weil man vernichten müsse, was in der falschen Ordnung gewußt und erfahren wurde:
    »Ganz im Gegenteil: Das ist notwendig, um diese Schätze dem ganzen Volke zugänglich zu machen, um die Entfremdung der Millionenmassen der Landbevölkerung von der Kultur aufzuheben, die Marx so treffend als ›Idiotismus des Landlebens‹ bezeichnet hat. Und heute, da die Übertragung elektrischer Energie auf große Entfernungen möglich ist und die Verkehrstechnik einen solchen Entwicklungsgrad erreicht

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