Der Insulaner
sich unweit des Mondtores befand. Hael sollte sich von seinem Gastgeber verabschieden und schon die heutige Nacht mit seinen zukünftigen Gefährten dort verbringen. Er erkundigte sich nach Pashir, der sich jedoch im Palast des Königs aufhielt und dort mehrere Tage bleiben würde.
Nachdem er alles erledigt hatte, was ihm noch einfiel, suchte der Junge Shazads Gemächer auf. Er fand sie vor einem Spiegel sitzend, während sich drei Dienerinnen um ihr Haar bemühten. Die prunkvolle Frisur erforderte die ungeteilte Aufmerksamkeit der drei Frauen. Eine Holzpuppe stand im Raum, die mit einem kostbaren Gewand bekleidet war und Juwelen und seltsam geformte Amulette trug.
»Guten Tag, Hael«, begrüßte ihn Shazad mit abwesender Miene, ohne die Augen vom Spiegel zu wenden. »Ich habe gerade viel zu tun. Heute Abend muss ich die erste der Erntezeremonien vollziehen. Die Göttin legt größten Wert auf stilvolle Haartracht und Gewänder. Könntest du morgen wiederkommen?«
»Morgen bin ich nicht mehr hier. Die Expedition bricht in aller Frühe auf.«
»Wirklich? So bald schon? Nun, du wirst ja zurückkehren.«
Hael war nicht so einfältig, mit tiefer Trauer über seine Abreise gerechnet zu haben, aber diese Haltung überraschte ihn.
»Woher willst du das wissen? Ich könnte unterwegs umkommen.«
»Sicher, das kann passieren. Aber wenn du am Leben bleibst, kehrst du zu mir zurück.« Sie schminkte sich die Wimpern mit Hilfe einer winzigen Bürste.
»Hältst du dich für so unwiderstehlich?« wollte er wissen.
Endlich sah sie ihn an und lächelte. »Natürlich. Außerdem habe ich dich verzaubert. Du bist ein Mensch, dessen Schicksal vorherbestimmt ist. Bei mir verhält es sich genauso. Unser beider Schicksale haben sich miteinander verknüpft, und du kannst nichts dagegen machen. Du wirst zu mir zurückkehren.«
Ihre Selbstsicherheit machte ihn krank, da er nicht wusste, ob sie es ernst meinte oder sich nur einen Spaß mit einem ungebildeten, abergläubischen Barbaren erlaubte. Außerdem hasste er es, wenn sie in Gegenwart anderer Leute so mit ihm sprach. Natürlich waren die Sklavinnen keine wirklichen Personen in Shazads Augen. Bei diesem Gedanken betrachtete er die drei Frauen und bemerkte, dass sie ihre Herrin mit unverhohlener Furcht anstarrten.
Stille lag über der Stadt. Im Lager herrschte jedoch reges Treiben, als die Händler die Packtiere beluden und Erde auf die noch schwach glühenden Kohlen der Feuer warfen. Die Nacht war kühl gewesen und erinnerte die Menschen daran, dass die heißen Tage des Sommers vorüber waren und ihnen die unfreundliche Winterzeit bevorstand. In Kasin herrschte niemals eisige Kälte, aber in den höheren Regionen, in die sich die Expedition begab, war das anders. Dort würden sie dem wahren Winter begegnen.
Als der erste Torwächter einen schwachen Streifen Tageslicht am östlichen Horizont erspähte, erklang auch der erste Gongschlag. Jetzt wurden die letzten Waren fest auf den Packtieren verzurrt. Wenige Minuten später ertönte der zweite Gongschlag, die letzten Handgriffe wurden erledigt, und alle Reiter bestiegen ihre Cabos. Beim dritten Gongschlag konnte der Hauptmann der Torwache den ersten Meilenstein erkennen, der in der Ferne wie eine kleine weiße Nadel aufragte.
Als die singenden Sklaven die schweren Tore langsam aufschoben, ritt Shong an die Spitze des Zuges. Hael kletterte in den Sattel des Cabos und steckte den Speer in die Halterung hinter seinem rechten Bein. Er brannte darauf, endlich loszuziehen, aber niemand würde sich rühren, bis Shong das Zeichen zum Aufbruch gab. Der Kaufmann umkreiste den Zug und vergewisserte sich, dass alle bereit waren. Zufrieden begab er sich erneut an die Spitze. Als das Stadttor weit offen stand, hob er den rechten Arm und gab das vereinbarte Zeichen. Die Händler stießen laute Jubelrufe aus und trieben ihre Reittiere an.
Hael trabte nach vorn, wagte aber nicht, Shong zu überholen. Er ritt unter dem steinernen Torbogen hindurch und überblickte die vor ihm liegende Ebene. Ganz in der Nähe warteten ein paar Karawanen – ähnlich Shongs Zug –, die am gestrigen Abend erst nach dem Schließen des Tores vor der Stadt angekommen waren. Zahlreiche Bauern brachten ihre Erträge und ihr Vieh zum Verkauf in die Stadt. Von irgendwo her ertönte das melodische Spiel einer Flöte.
Hael verließ Kasin mit gemischten Gefühlen, aber der erste Atemzug, den er außerhalb der Mauern tat, schmeckte nach Freiheit. Das ganze Land lag
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