Der Insulaner
einladend vor ihm und er war begierig darauf, es kennen zu lernen.
Das Cabo, auf dem er ritt, hieß Trittsicher. Der Name passte zu dem Tier, aber Hael wusste, dass Cabos niemals auf Namen hören würden, die ihnen die Menschen gaben. Trittsicher war ein ruhiges und zuverlässiges Tier; genau das richtige für eine so weite Reise.
Die bepackten Nusks waren deutlich größer als jene, die er aus seiner Heimat kannte. Sie hatten zottige weiße Mähnen, die ihnen über den Hals und die Schultern fielen. Die Viehtreiber waren seltsame Burschen mit dunkler Haut, die knielange weiße Tücher um die Hüften gewickelt hatten. In den durchstochenen Ohrläppchen baumelten Kupferdrähte und allen fehlten die Vorderzähne. Beides gehörte zu den grausamen Männlichkeitszeremonien ihres Volkes. Man hatte Hael erklärt, dass es sich um Kereels handelte, deren Heimatland an die Wüste im Südosten grenzte. Auch warnte man Hael, dass diese Kerle raubeinige Schlitzohren seien, und er glaubte es ohne weiteres. Ihr Anführer war ein großer hagerer Mann namens Agah. Ihm fehlten zwei Finger sowie die Hälfte eines Ohrs, und sein Körper war mit Narben übersät.
Die gepflasterte Straßendecke endete am ersten Meilenstein und ging in eine Schicht festgestampfter Erde über. Zum Glück sorgten die täglichen Regenfälle dafür, dass die Menschen und Tiere nicht in Staubwolken gehüllt wurden, da der Boden nie ganz austrocknete. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich Weideland und ausgedehnte Äcker und Felder. Auf den Kornfeldern neigten sich hohe Halme unter dem Gewicht der beinahe ausgereiften Ähren, die in wenigen Tagen geerntet werden konnten. Neben jedem Feld stand ein winziger Schrein, aus dem Rauch aufstieg. Hael sah sich suchend nach jemandem um, den er nach der Bewandtnis der Schreine fragen konnte. Sein Blick fiel auf Choula, den königlichen Kartographen.
»Das sind Schreine zu Ehren der Götter des Windes, des Regens und des Sturms«, erklärte der Mann. »Die Bauern warten verzweifelt auf eine kurze Rückkehr des Sommers. Wenn es sechs Tage lang nicht regnet, können sie die Ernte trocken unter Dach und Fach bringen. In manchen Jahren verdirbt ein großer Teil der Ernte durch Feuchtigkeit. Manchmal ist sogar alles verloren. In den letzten Jahren hatten wir mehr verregnete Ernten als in etlichen Jahrhunderten zuvor.«
»Wieso denn das?« fragte Hael. »Wenn die Götter das alles bestimmen, sollten sie doch durch all diese Opfergaben und Zeremonien gnädig gestimmt sein und für gutes Wetter sorgen!«
»Das sollte man meinen, aber die Götter ändern ihre Meinung oder ihre Ansprüche. Von Zeit zu Zeit verdrängt auch der eine Gott den anderen. Oder …« - er warf einen Blick in die Runde, um nach etwaigen Zuhörern Ausschau zu halten –, »… oder aber es liegt daran, dass die Götter überhaupt nichts damit zu tun haben.«
Hael kraulte sein Cabo hinter den Ohren, und das Tier schnaubte zufrieden. »Wie kommst du darauf?«
»Nun …« Wieder sah sich Choula misstrauisch um. »Siehst du den närrischen Gilipas irgendwo? Er gehört zur Priesterschaft und hasst frevlerische Reden.« Da Gilipas, der sich in Omia der nevanischen Botschaft anschließen sollte, nicht zu entdecken war, fuhr Choula fort: »Nun, unter uns gibt es viele, die der Meinung sind, dass die Welt von wenig oder gar keinem Interesse für die Götter ist. Sie haben ihre eigenen Gesetze, und kein Gebet oder noch so großes Opfer wird daran etwas ändern. Schau her.« Er pflückte einen kleinen Zweig aus dem Bart seines Cabos, hielt ihn in die Höhe und ließ ihn wieder fallen. »Hast du gesehen?«
»Er fiel auf die Erde«, sagte Hael und wartete auf eine Erklärung.
»Genau. Er fiel. Alle Dinge fallen zu Boden, wenn nichts sie hält. Auch die leichteste Feder fällt, wenn kein Windhauch sie trägt. Dazu bedarf es nicht einer göttlichen Fügung. Das ist einfach der Lauf der Natur. Glaubst du etwa, dass irgendwo ein Gott herumsitzt, der seine Zeit damit verbringt, Dingen zu befehlen, zu Boden zu fallen? Unsinn!«
Dieser Gedanke war Hael bisher nie gekommen. Diese Dinge geschahen einfach. »Also glaubst du, dass sich das Wetter nach den Naturgesetzen richtet und nicht zu ändern ist?«
»Das Wetter und vieles andere auch. Die meisten Dinge eben, die nicht ausdrücklich von Menschenhand gesteuert oder verändert werden. Man muss natürlich aufpassen, wenn man das laut ausspricht. In einer weltoffenen Stadt wie Kasin, in der zahlreiche
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