Der Ire
Vanbrugh rasierte sich fertig und
trocknete eben sein Gesicht ab, als seine Frau hereinkam.
»Telefon, Liebling. Der Chef selbst.«
Vanbrugh starrte sie an und runzelte die Stirn. »Soll das ein Witz sein?«
»Leider nicht. Ich mache dir gleich dein Frühstück. Wahrscheinlich hast du es nachher eilig.«
Vanbrugh zog sein Hemd an und stopfte
es sich in die Hose, während er nach unten ging. Seine
Müdigkeit war verschwunden. Es mußte sich um etwas Wichtiges
handeln. Sein Chef hätte nicht um halb acht bei ihm angerufen, nur
weil nachts in irgendeinem Lagerhaus eingebrochen worden war.
Er nahm den Telefonhörer auf und lehnte sich gegen die Wand. »Hier ist Vanbrugh, Sir.«
»Morgen, Dick. Tut mir leid,
aber ich glaube, daß ich Ihnen das Frühstück verderben
muß.«
»Nicht zum erstenmal«, stellte Vanbrugh fest.
»Rogan ist ausgebrochen.«
Vanbrugh fühlte einen leichten
Schwindel. Er holte tief Luft, schloß die Augen und öffnete
sie wieder.
»Wann?«
»Irgendwann letzte Nacht. Sein
Fehlen ist erst morgens beim Wecken bemerkt worden. Der Direktor hat
gleich angerufen.«
»Wie hat Rogan das geschafft?«
»Das weiß kein Mensch.
Vielleicht findet sich noch ein Hinweis, aber vorläufig ist er
spurlos verschwunden.«
Vanbrugh lachte leise. »Haben
Sie gewußt, daß die Widerstandskämpfer ihm den
Spitznamen ›der Geist‹ gegeben haben, Sir?«
Sein Chef überhörte diese Bemerkung. »Sie leiten die
Fahndung, Dick.«
Vanbrugh holte tief Luft. »Das würde ich in diesem Fall nicht gern tun, Sir.«
»Sie sind der beste Mann für diese Aufgabe, Dick, Sie kennen Rogan besser als jeder andere.«
»Das ist eben der springende Punkt, Sir.«
»Kurz nach neun geht ein
Schnellzug vom Bahnhof Paddington ab. Nehmen Sie Dwyer mit. Ich sorge
dafür, daß Sie von den dortigen Polizeibehörden
unterstützt werden. Je länger er in Freiheit bleibt, desto
schwieriger wird die Sache für uns. Wenn die Presse sich erst
einmal mit Rogans Verdiensten befaßt, haben wir nichts mehr zu
lachen.«
»Wäre das so schlimm,
Sir?« fragte Vanbrugh. »Vielleicht würde der
Innenminister sich dann umstimmen lassen ...«
»Soll er etwa auf solche
emotionellen Erpressungsversuche eingehen?« knurrte Vanbrughs
Chef. »Denken Sie gefälligst daran, daß Sie ein
Kriminalbeamter sind, Mann, und machen Sie sich an die Arbeit!«
Vanbrugh legte auf, dachte kurz nach
und rief dann Sergeant Dwyer zu Hause an. Danach ging er in die
Küche, wo seine Frau ihm erwartungsvoll entgegensah.
»Bitte nur eine Tasse Kaffee, Schatz. Ich muß fort.«
Sie goß ihm Kaffee ein.
»Wir sind jetzt fünfundzwanzig Jahre verheiratet, Dick. Da
lernt man einander kennen. Was ist schiefgegangen?«
»Sean Rogan ist
ausgebrochen«, antwortete er bedrückt. »Der Alte will,
daß ich die Fahndung selbst leite.«
»Nein!« Sie sank enttäuscht auf einen Stuhl. »Hast du noch nicht genug getan?«
»Ich habe meinen Beruf,
Nell«, sagte er. »Das hast du gewußt, als wir
geheiratet haben. Und Sean hat auch gewußt, daß ich
Kriminalbeamter bin.«
»Aber er hat dir das Leben gerettet, Dick!«
»Glaubst du etwa, daß ich das vergessen habe?«
Als sie den Kopf schüttelte,
hatte sie Tränen in den Augen. Er ergriff ihre Hand, als sie ihm
über die Haare strich, und küßte sie.
»Ich muß jetzt fort, Schatz. Ich darf keine Zeit verlieren.«
Er stand auf und ging langsam hinaus.
Es regnete noch immer, als Rogan und
die junge Frau Bowness erreichten und die Fähre über den Lake
Windermere benützten. Sie standen allein am Heck und genossen die
herrliche Aussicht.
»Was hältst du davon?« fragte Hannah ihn.
»Wunderschön!«
»Der schönste Fleck
Englands. Im Sommer wimmelt es hier von Touristen. Aber um diese
Jahreszeit begegnet man keiner Menschenseele mehr. Deshalb gefällt
es mir jetzt am besten.«
Auf dem anderen Ufer fuhren sie nach
Hawkshead weiter und bogen hinter Coniston Water in Richtung
Broughtonin-Furness und Whicham ab. Dort nahmen sie die
Küstenstraße nach Norden und sahen eine Meile hinter
Whitbeck Station einen Wegweiser mit der Aufschrift Marsh-End. Dort bog
Hannah ab. Der Ford holperte über eine schlechte Straße zum
Meer.
Sie folgten dem Lauf eines Bachs, der
sich wie eine Schlange durch die Marschen wand, wo die Wildenten
nisteten. Vom Meer her zog leichter Nebel auf und ließ alle
Konturen
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