Der italienische Geliebte (German Edition)
Kinder, die sein Verhalten verstörte, aus dem Unterricht herauszunehmen, bis er ruhiger geworden sei. Tessa musste ihr widerstrebend zustimmen. Von da an hielt Tommaso sich meistens in der Wäscherei auf, unter den wachsamen Augen der Mütter und Großmütter, die dort arbeiteten. Er hatte es gern, wenn man ihn in dem Korbwagen, mit dem die feuchte Wäsche zu den Leinen zum Aufhängen befördert wurde, in den Garten hinausfuhr. Manchmal, wenn der Wagen schnell geschoben wurde, ließ er ein befremdliches nasales Lachen hören, das noch verstörender war als das Heulen. Das Schlimme sei, sagte Tessa eines Abends zu Faustina, dass sie keine Ahnung hätten, wie Tommaso vor den Bombenangriffen gewesen sei. Er konnte von liebevollen Eltern großgezogen oder er konnte geprügelt worden sein. Seine Familie war vermutlich in den Bomben umgekommen; man hatte ihn allein umherirrend in den zerstörten Straßen Neapels aufgelesen. Nicht einmal sein Name war sein eigener: Die Ordensschwestern, die ihn aufgenommen und sich um ihn gekümmert hatten, hatten ihm den Namen gegeben, bevor sie ihn mit Lina und den anderen Kindern aufs Land ziehen ließen.
An schönen Abenden fuhr Tessa den kleinen Jungen oft im Wäschewagen spazieren. Sie schob den Wagen über das Gras, und Tommaso lachte auf seine befremdliche Art, während sie ihm erzählte, was es rundherum zu sehen gab. Wenn ihm etwas Angst machte – Hundegebell oder ein Rascheln im Dickicht – kletterte er Hals über Kopf aus dem Wagen und rannte davon, um sich in einer Buchsbaumhecke zu verkriechen. Er hatte sich in der Hecke aus dürrem Laub und kleinen Zweigen eine Art Nest gebaut, wo er alles Mögliche versteckte – eine verrostete Dose voll Regenwasser, ein Stück Decke, abgerissen und schmutzig, einen Brotkanten. Eines Abends, als das Donnern eines Militärlastwagens auf der nahen Straße ihn erschreckt hatte, weigerte er sich, aus seiner Höhle herauszukommen. Tessa blieb im Gras neben der Buchsbaumhecke sitzen, bis es dunkel wurde und Tommaso einschlief. Dann hob sie ihn heraus und trug ihn ins Haus.
Dr. Berardi erklärte Tessa, Tommaso sei schwachsinnig und gehöre in eine Anstalt. Worauf Tessa Dr. Berardi erwiderte, der Schwachsinnige sei er, nicht Tommaso. Wenn einem alles genommen worden sei, was man bisher gekannt hatte, wenn man in Abfällen nach etwas Essbarem gewühlt und nächtelang mutterseelenallein im Freien geschlafen habe, sei man vielleicht froh, sich irgendwo in einem kleinen Loch verschanzen zu können, wo man sich sicher fühlte. Und vielleicht würde man dann auch sein Essen so schnell wie möglich in sich hineinschaufeln, weil man Angst hatte, jemand könnte es einem wegnehmen. Tessa wusste, dass Tommaso nicht verloren war. Er hatte sich in sich verkrochen, sie musste nur ein Mittel finden, ihn herauszulocken.
In diesem Sommer, nach ihrem Sieg in Nordafrika, setzten die alliierten Truppen nach Italien über. Die Inseln Pantelleria und Sizilien dienten ihnen als Luftstützpunkte und als Trittsteine zur Überquerung des Mittelmeers. In Sizilien wurde immer noch erbittert gekämpft, als im Radio der Sturz Mussolinis bekannt gegeben wurde. Er war nach einer Sitzung des faschistischen Großrats abgesetzt worden. Marschall Badoglio, ein Held des Ersten Weltkriegs, bildete eine Regierung, die faschistische Miliz wurde aufgelöst und das Kriegsrecht ausgerufen.
Auf dem Gut wurden Krüge mit Oliven und große Schinken in den Geheimräumen versteckt, die man vorher in Kellern und Dachböden eingebaut hatte. Essensvorräte wurden auf dem Gelände vergraben, zusätzliche Nahrungsmittel, sowie Kleidung und Schuhe in Verstecken auf den abseits liegenden Höfen gelagert. Kleidung und Nähgarn gab es kaum noch zu kaufen – ab und zu brachten Olivia oder Faustina nach Besuchen in Florenz etwas von den dortigen Gebrauchtwarenmärkten mit –, und Schuhe aufzutreiben, war beinahe unmöglich. Aus alten Bettlaken und Handtüchern nähten sie Windeln für die Säuglinge, aus Vorhängen Hemden und Kleider für die Kinder. Da es keine Wolle mehr gab, spannen die Frauen auf dem Gut ihre Wolle selbst. Ein paar ältere Frauen besaßen kleine tragbare Spinnräder, die sie unter den Arm geklemmt mit sich trugen und an denen sie unaufhörlich mit flinken Fingern arbeiteten, während sie von Hof zu Hof gingen. Eine der Frauen, eine Urgroßmutter, einen Kopf kleiner als Tessa, das Gesicht runzlig wie eine Mandelschale, brachte ihr das Spinnen bei. Für Tessa
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