Der Jade-Pavillon
sich benimmt wie ein Mandarin: Ich lebe, wie ich es für richtig halte! War das eine klare Antwort?«
Tong zitterte vor Wut und Gram, und er spürte sein Herz und die eiserne Zange, die es zu umklammern schien. »Ich habe deine Mutter gefragt, aber auch sie gibt keine Antwort.«
»Ich möchte sie an meine Brust drücken. Jetzt wird sie endlich ein Mensch. Sie hat mich vorhin zum ersten Mal geschlagen.«
»Sie hat dich was?« Tong atmete schwer. Eine Frau, auch wenn es seine Frau war, hatte es gewagt, seinen Sohn zu schlagen. »Sie wird dich um Vergebung bitten«, sagte er mit heiserer Stimme. »Sie wird um die Gnade bitten, daß du sie wieder ansiehst und mit ihr ein Wort sprichst.«
»Ich werde sie küssen, wenn sie sich weigert, das zu tun.«
»Du hast ein Mädchen?«
»Ich habe viele Mädchen. Jeden Tag eine andere, und zu jeder sage ich: ›Jetzt hat Jian auf dir gelegen, der Sohn des großen Tong Shijun.‹ Und die meisten antworten dann: ›Es ist mir eine große Ehre, von dir genommen zu werden.‹ So wird dein Name noch bekannter, als er schon ist.«
»Habe ich einen Sohn oder ein Schwein großgezogen?« schrie Tong. »Du hast drei Tage und Nächte bei den Huren zugebracht?«
»Bei braven Bürgerstöchtern, Vater. Töchtern von ehrbaren Genossen. Hast du vor deiner Hochzeit mit Meizhu nur Huren gehabt?«
Tong Shijun, der aufspringen wollte, sank auf das Sofa zurück und drückte beide Hände flach auf sein Herz. Besorgt und plötzlich einsehend, daß seine Worte zu niederschmetternd auf seinen Vater gewirkt hatten, kam Jian um den Tisch herum, um dem Vater den Puls zu fühlen. Aber Tong stieß ihn grob zurück, erhob sich mit Mühe und ging leicht schwankend hinaus, ohne seinen Sohn anzusehen.
Das Abendessen nahmen Meizhu und Jian allein ein. Tong Shijun saß in seiner Bibliothek in einem tiefen Ledersessel und starrte vor sich hin. Je länger er über die Wandlung seines Sohnes nachgrübelte, um so mehr kam ihm die Erkenntnis, daß alles, was Jian vorhin gesagt hatte, nicht der Wahrheit entsprach, daß er nicht jeden Tag ein anderes Mädchen ins Bett zog und drei Tage und Nächte herumgestrolcht war, um sich auszutoben. Das war, bei all seiner Unbekümmertheit, nicht Jians Lebensart. Blieb also die Frage: Wo war er in diesen drei Tagen und Nächten gewesen?
Über Tong legte sich wieder die Ruhe der Weisheit. Er zerlegte den Charakter seines Sohnes, als seziere er eine Leiche, um die Todesursache zu ergründen. Und so kam Tong zu dem Schluß, daß es nur ein Mädchen gab, in das sich Jian wirklich verliebt hatte und das er nun mit seinen lockeren Reden zu schützen versuchte.
So ist es, sagte sich Tong, und gleichzeitig erkannte er die Gefahr. Abenteuer mit vielen Mädchen gehen rasch vorüber, ein einziges Mädchen aber ist wie eine Nachtigall, der man mit Verzückung lauscht und die man mit sich trägt, wohin man auch geht. War das die Wahrheit, dann verlor Tong sein Gesicht vor Yanmeis Vater, und seine Ehre hatte einen Fleck bekommen, der unabwaschbar war.
Tong vermied es, noch in dieser Nacht wieder mit seinem Sohn zu sprechen. Er ging zu Bett, und als Meizhu sich später zu ihm legte, sagte er: »Du hast Jian geschlagen?«
»Ja. Er hatte es verdient.«
»Greift eine Mutter ihren Sohn an?«
»Ich bin froh, daß ich es getan habe. Es ist mir, als atmete ich freier.« Sie richtete sich im Bett auf, wandte sich Tong zu und sah ihn mit einem Blick an, den er noch nie an ihr bemerkt hatte. »Haben wir eigentlich gelebt?« fragte sie.
»Welch eine Frage! Fast dreißig Jahre haben wir alles gemeinsam getan.«
»Du hast es angeordnet, und wir haben es getan. Hast du einmal gefragt: ›Ist es recht so, Meizhu?‹?«
»Es war doch immer richtig. Wo habe ich einen Fehler gemacht? Denk nur an die Kulturrevolution. Wir haben sie überlebt, obgleich ich ein Intellektueller bin, den man hätte erschießen oder erschlagen müssen. Ich habe mich den Mao-Horden als Arzt zur Verfügung gestellt. Und als Mao erfuhr, daß Zhang Shufang dein Onkel ist, habe ich einen Ausweis bekommen, der uns vor aller Verfolgung schützte. Sie haben mich in die Partei aufgenommen, und Mao ließ mir eine Fahne schenken. Ich habe immer das Richtige getan, Meizhu, und du fragst: ›Haben wir eigentlich gelebt?‹ Was habe ich dir nicht gegeben?«
»Das Gefühl, ein dir ebenbürtiger Mensch zu sein.«
»Ich bin so erzogen worden, wie ich bin.« Er wandte ihr den Kopf zu. »Du hast also Jian geschlagen und fühlst dich jetzt
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