Der Jade-Pavillon
zwar keine Salbe gegen Blutergüsse, aber ein Wund- und Heilgel; mit ihm rieb er Lidas Rücken ein, auch wenn er sich sagte, daß das wenig Sinn habe. Zhou Chen, der Barfußarzt, mußte so schnell wie möglich eine Auswahl moderner Medikamente bekommen, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Er nahm sich vor, von Kunming ein großes Paket mit genauen Anweisungen für jedes Präparat an Zhou zu schicken. So würde Zhou zum berühmtesten Barfußarzt der ganzen Gegend werden, denn es würde sich natürlich herumsprechen, daß in Huili ein Arzt saß, der über bisher unbekannte Medikamente verfügte, die schneller und wirksamer heilen konnten als die bisher von ihm selbst hergestellten Mittel.
Am Abend stellte Lida wieder die traurige Frage: »Du mußt morgen früh fahren?«
Und Jian antwortete wie immer: »Ja. Ich muß.«
»Und wann kommst du wieder?«
»Ich weiß es nicht. Diesmal kann es länger dauern.«
»Warum?«
»Es steht vieles auf dem Vorlesungsplan, was ich nicht versäumen darf. Aber ich werde schreiben.«
»Ein beschriebenes Blatt bist nicht du. An ihm kann ich mich nicht wärmen, an ihm spüre ich nicht deine Lippen, es ist nicht dein Körper, den ich umarmen kann.«
Sie saßen nebeneinander auf dem Bett. Sie hatten diese eine Nacht noch vor sich, und wenn sie auch voll Glück sein würde, so fror Lida doch bei dem Wissen, daß am nächsten Morgen der Abschied folgen würde und Tage kamen, in denen zwei Gefühle sie ergriffen und ihr Leben bestimmten, die sie vorher nie gekannt hatte: Einsamkeit und Sehnsucht.
Oft erschrak sie bis zur Atemlosigkeit vor diesen Gefühlen, und sie fragte sich, ob die Liebe einen Menschen so verändern kann, daß er sich selbst nicht mehr kennt. Einsamkeit – sie hatte nie gewußt, was das ist. Wie kann man einsam sein, wenn man einen gütigen Vater und eine zärtliche Mutter hat, wenn man in einem Dorf lebt und ein Teil der Gemeinschaft ist, wenn man den Garten pflegt und die Blumen blühen sieht, seine Gemüse- und Reisfelder hat, seinen Büffel und Hühner und Enten und ein Schwein, wenn man mit dem Kleintraktor zum Markt fahren und dort eine Menge Leute treffen kann – das Leben ist so voller Vielfalt, so voller Überraschungen, so voller Neuigkeiten, wie kann es da das Wort Einsamkeit geben?
Und Sehnsucht? Wonach sollte man sich sehnen, wenn man alles hatte und keine Wünsche offen blieben? Auf dem Markt wurde viel geredet von dem Leben in den großen Städten, auf dem Markt konnte man sich Zeitschriften kaufen mit bunten Bildern, die breite Straßen, viele Autos, schöne Kleider, hohe Häuser und Geschäfte zeigten, in denen man alles kaufen konnte – aber danach Sehnsucht haben, das hatte Lida nie gekannt. Noch weniger hatte sie das Gefühl gehabt, sich nach einem Menschen zu sehnen, denn Vater, Mutter und Bruder waren um sie, und damit war ihre Welt vollkommen, und es gab nichts, wonach ihre Seele suchte – schon gar nicht einen Körper, den sie hätte umarmen mögen.
Wie hatte sich das alles verwandelt! In ihrer kleinen, schönen Welt überkam sie jetzt die Einsamkeit, wenn sie allein am Abend in ihrem Bett lag und an Jian dachte, an seine warme Nähe, an seine zärtlichen Hände und seine Lippen. Sie hörte nebenan im Stall den Büffel rumoren, sie hörte die Stimmen ihres Vaters und ihrer Mutter, es hatte sich nichts geändert, und doch war alles anders geworden. Sie lag ohne Jian in einer leeren Dunkelheit, und sie wußte, daß sie wie eine geschnittene Blume dahinwelken würde, wenn Jian nicht wiederkommen würde und die Zeit alle Versprechungen verschlang. Und wenn sie auf dem Feld war und einen Augenblick auf einem Stein ausruhte, hätte sie manchmal weinen können vor der unendlichen Leere, die sie umgab. Sie begriff nicht, wie sie so denken konnte, wo doch vor Jian diese Welt für sie vollkommen gewesen war.
Nur einmal sprach Lida mit ihrer Mutter darüber. Es war, bevor sie wieder ihren Büffel auf das Reisfeld trieb, nach dem Frühstück, das Jinvan und sie allein zu sich nahmen, denn Huang Keli schlief noch. Ein Lehrer braucht nicht um fünf Uhr früh aufzustehen.
»Mutter, sieh mich an«, sagte Lida und hob den Kopf.
Jinvan nickte und betrachtete sie verwundert. »Ich sehe dich an, Lida.«
»Habe ich mich verändert? Bin ich ein anderer Mensch geworden?«
»Wie kannst du ein anderer Mensch sein? Du bleibst immer, die du bist; nur der Sinn ändert sich, der Blick, mit dem du die Welt siehst. Warum fragst du so etwas?«
»Ich sehe unsere
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