Der Jade-Pavillon
Lida in Kunming – es wäre ein Erdbeben, das die Familie Tong verschlang.
»Du wirst von deiner Einheit nie die Genehmigung bekommen, in die Stadt zu ziehen.«
Es war eine zögernde Antwort, aber Lida merkte es nicht; sie war von dem Gedanken gefangen, mit dem sie sich seit Wochen heimlich beschäftigte. »Ich werde einen Antrag stellen, Jian.«
»Hast du schon mit deinen Eltern darüber gesprochen?«
»Nein. Ich werde in Kunming eine Stellung annehmen, ganz gleich, in was für einem Betrieb; ich würde sogar in eine der Straßenreinigungskolonnen eintreten. Ich würde alles tun … Aber ich wäre dann bei dir, wir sähen uns jeden Tag, und wenn ich ein eigenes Zimmer bekäme, könnten wir darin glücklich sein.«
»Du wirst nie die Zuzugsgenehmigung für Kunming bekommen. Es gibt schon zu viele Arbeitslose, die vom Land in die Stadt gekommen sind, weil sie geglaubt haben, dort lägen die Yuan auf der Straße.« Er beugte sich über sie, küßte ihre Augen und dachte, welchen Skandal es gäbe, wenn bekannt würde, daß der Sohn des großen Tong eine Straßenkehrerin liebte. Das würde ihre Zukunft vernichten.
»Ich will nicht viel Geld verdienen«, sagte sie, »ich will nur bei dir sein.«
»Dein Vater hat unter größten Opfern dieses Haus für uns gebaut. Du triffst ihn ins Herz, wenn du es verläßt, um es gegen ein schmutziges, enges Zimmer in Kunming einzutauschen. Die Enttäuschung wird ihn niederwerfen. Das darfst du ihm nicht antun, Lida.«
»Ich kann ohne dich nicht mehr atmen«, sagte sie und schmiegte sich enger an ihn. »Ich brauche dich zum Leben, du bist die Luft, die Sonne, der Wind, du bist Tag und Nacht, du bist der Himmel mit allen Sternen, und du bist die Erde, von der wir leben. Morgen gehst du weg und läßt mich zurück und weißt nicht, wann du wiederkommst. Wie kann ich das aushalten? Woher soll ich die Stärke nehmen, ruhig und in Demut zu warten? In Kunming – «
Er schüttelte den Kopf. »Wer soll sich hier um die Felder kümmern, um den Garten und um den Büffel? Willst du, daß hier alles verödet, was ihr in Jahrzehnten aufgebaut habt, nur weil du glaubst, du könntest nicht warten, bis wir ein Ehepaar sind?«
»Ob jetzt oder in vier Jahren, es wird das Gleiche sein: Ich werde mit dir Huili verlassen, und wir ziehen irgendwohin, wo du als Arzt arbeiten kannst. Wer wird sich dann um die Felder kümmern? Die Nachbarn werden sie übernehmen und Vater einen kleinen Anteil von der Ernte geben. Er wird keine Sorgen haben.«
»Du wirst im überfüllten Kunming nie ein Zimmer für dich allein bekommen.«
»Ich brauche kein Zimmer, Jian.« Sie lächelte ihn fröhlich an. »Ich habe schon eine Wohnung.«
»Du hast in Kunming eine Wohnung?«
»Hast du Tifei, meinen Bruder, vergessen? Er ist ein reicher Mann geworden. Er hat ein gutgehendes Fuhrunternehmen mit drei Lastwagen. Er kennt jetzt alle Männer, die großen Einfluß in Kunming haben. Er wird mir eine Wohnung besorgen, die Zuzugsgenehmigung, die Erlaubnis der Einheit Huili – es gibt keine Schwierigkeit, zu dir zu kommen.«
»Laß uns das alles erst genau überlegen«, sagte Jian. Er sah die Stunde vor Augen, in der Lida in das Haus der Tongs kam und seinem Vater gegenüberstand, und er sah, wie sein Vater das Miao-Mädchen in seinem Baumwollkleid musterte, so wie man auf dem Vogelmarkt einen unscheinbaren Vogel ansieht, von dem behauptet wird, er könne besonders süß singen, und wie er zu ihr sagte: »Du bist die Konkubine meines Sohnes? Du bist hübsch, du kannst seine Konkubine bleiben, aber unter das Dach der Tongs kommt nur eine Frau, die würdig ist, unseren Namen zu tragen!« Und er, Jian, mußte dann den Mut haben, vor seinen Vater zu treten und ihm ins Gesicht zu schreien: »Ich verzichte darauf, ein Tong zu sein! Ich verachte dich und deine ganze verdammte Tradition! Du bist das Scheußlichste, das ich mir denken kann: ein kommunistischer Mandarin!« Genauso würde sich alles abspielen, wenn Lida jetzt nach Kunming käme. In vier Jahren aber konnte alles anders aussehen.
Daran dachte Jian auch jetzt, als er in seinem Zimmer auf dem Bett lag. Aus dem Radio erklang europäische Musik: Beethovens Dritte Sinfonie. Jian schloß die Augen und suchte nach Gründen, die Lida daran hindern konnten, nach Kunming zu kommen. Er erfand eine Menge, aber er wußte auch, daß sie Lida nicht überzeugen konnten.
Die Mühe dieses Nachdenkens hätte sich Jian erspart, wenn er gewußt hätte, daß zur gleichen Zeit sein Vater
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