Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
Menschenmasse, blieb hier und da stehen und verweilte bei einem Zahnarzt, der mitten zwischen den anderen Ständen seinen Tisch aufgebaut hatte, auf dem seine ärztlichen Instrumente und ein Haufen von gezogenen Zähnen lagen als Reklame und Nachweis seines Könnens. Er hatte gerade einen Patienten vor sich, dem er einen gelben Zahnstumpf herausreißen wollte. Der Kiefer war mit einer bräunlichen Flüssigkeit bestrichen, was wohl ein Betäubungsmittel war, dessen geheimnisvolle Zusammensetzung nur er kannte – auch das ein Beweis seiner Fähigkeit als Zahnarzt –, und Jian wartete, bis der Zahn gezogen war und dann auf dem Haufen der anderen Zähne landete. Die blutende Wunde betupfte der Zahnarzt mit einer anderen Flüssigkeit, und sofort hörte die Blutung auf. Zufrieden stand der Patient von seinem wackeligen Stuhl auf, bezahlte und verschwand im Gewimmel der Menschen.
    Der Zahnarzt griff unter den Tisch, setzte eine Flasche an den Mund und trank. Dann sah er Jian an. »Du auch?« fragte er. »Setz dich. Mach den Mund auf. Ich finde den quälenden Teufel schon.«
    »Ich habe gesunde Zähne, lieber Kollege«, erwiderte Jian und lachte.
    Der Zahnarzt legte die Hände in den Schoß und betrachtete den jungen Mann genauer. »Kollege?« fragte er.
    »Ich bin Student der Medizin.«
    »Aus Kunming, habe ich recht?«
    »Ja.«
    »Zahnmedizin?«
    »Nein, ich will einmal Chirurg werden.«
    »Das wollte ich auch einmal. Aber einen Zahn zu ziehen ist gefahrloser, als einen Bauch aufzuschneiden. Nach dieser Erkenntnis bin ich bei den Zähnen geblieben.«
    »Und du hast genug zu tun?«
    »Man ist zufrieden. Du kommst sicherlich aus einem feinen Haus in der Stadt.«
    »Mein Vater ist Professor. Er hat in Kunming eine eigene Klinik. Er ist ein bekannter Mann.«
    »Dann sei glücklich, daß du geboren worden bist. Geh weiter, jeder denkt, wir verhandeln um einen Zahn, und andere Kunden gehen vorbei. Für mich ist jeder Zahn ein Topf Reis und ein Fisch, für deinen Vater ein abgesägtes Bein so viel wie eine geröstete Beijing-Ente. Geh weiter; ich warte auf Kunden, nicht auf ein Gespräch.«
    »Ich wünsche dir gute Geschäfte, Kollege«, sagte Jian und wandte sich zum Gehen. Dabei stieß er mit einem Menschen zusammen, der dicht hinter ihm stand und anscheinend den Haufen gezogener Zähne auf dem Tisch bewunderte. Es war ein Mädchen in einem Bauernkittel und blauen Hosen; die langen Haare umrahmten ein Gesicht, das in seinen ausgewogenen Proportionen ihn sofort an ein altes Tuschgemälde erinnerte, das im Hause seines Vaters im Vorraum hing. Es stellte die Konkubine eines Kaisers aus dem 15. Jahrhundert dar, und Tong Shijun, der große Arzt, war stolz darauf, ein so wertvolles Original zu besitzen. Er nannte die Konkubine ›Junjun‹, da ihm ihr richtiger Name unbekannt geblieben war.
    »Verzeihung!« rief Jian sofort, nachdem er das Mädchen angerempelt hatte. »Wie ungeschickt von mir! Man sollte erst den Kopf drehen und dann den Körper. Kann Junjun mir verzeihen?«
    »Junjun? Wer ist Junjun?« fragte das Mädchen erstaunt und rieb sich den linken Oberarm, den Jians Ellenbogen getroffen hatte.
    »Das ist die lange Geschichte eines schönen Mädchens«, erwiderte Jian. »Es hieß Junjun, war lieblich wie eine Seerosenknospe und konnte aufblühen, daß vor ihrer Schönheit die Fische blind wurden und man sie mit der Hand fangen konnte.«
    »Ein schönes Märchen.« Das Mädchen rieb sich weiter den Oberarm. »Junjun lebt nur in der Phantasie der Dichter.«
    »Aber es gibt eine Wirklichkeit, die alle Phantasie übertrifft.« Er machte eine kleine höfliche Verbeugung, ohne den Blick von ihrem zarten Gesicht zu wenden. »Ich bin Jian.«
    »Ich heiße Lida.«
    »Habe ich dich am Arm verletzt?«
    »Du hast spitze Ellenbogen, aber ich reibe den Schmerz weg. Das macht man bei uns immer so.«
    »Weil das die Blutzirkulation vermehrt. Zeig einmal her.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er ihren Arm, untersuchte die Druckstelle und hielt den Arm auch noch fest in seinen Händen, als er weitersprach und es nichts mehr zu untersuchen gab. »Es wird ein Hämatom werden, das ist sicher.«
    »Was ist ein Hämatom?«
    »Ein blauer Fleck. Eine Blutstauung. Erst wird sie blau, dann gelb, und dann ist sie von allein weg. Komm mit! Dort hinten steht mein Wagen. Ich habe eine gute Salbe gegen Hämatome im Kofferraum.«
    »Du bist ein Medizinverkäufer?« fragte Lida voll Interesse. »Pulver und Salben und Tropfen? Gibt es etwas gegen einen

Weitere Kostenlose Bücher