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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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»Ich habe immer meine Pflicht getan. Ich habe jedes Jahr das Soll überschritten. Sogar eine Silberplakette von Mao hat meine Fabrik erhalten, und wie behandelt man mich jetzt? Das kann doch nur ein Irrtum sein.«
    »Wir waren nicht wachsam, lieber Freund.« Tong legte den Arm um seinen Sohn Jian. »Wir haben die Zeichen nicht erkannt. Der Einfluß Maos ließ immer mehr nach, der wichtigste Mann im Hintergrund wurde Zhou Enlai, und Deng Xiaoping wurde Maos Stellvertreter im Zentralkomitee der Partei, Deng, von dem jeder weiß, daß er die radikalen Kommunisten nicht mag. Dann erkrankte Zhou Enlai an Krebs, und wer übernahm nun auch dessen Amtsgeschäfte? Wieder Deng. 1976 stirbt Zhou, und wenn auch sein Nachfolger Hua Guofeng heißt – an Deng geht nichts vorbei. Und dann, denk daran, im März 1976 die große Wandzeitung in Kanton: ›Jiang Qing ist eine Prostituierte der Ausbeuterklasse.‹ Wer hätte es jemals gewagt, Maos Frau öffentlich so zu nennen? Das alles waren Zeichen, die wir nicht erkannt haben. Für diese Blindheit müssen wir jetzt büßen.«
    »Aber die Soldaten Maos haben uns doch hier zusammengetrieben.«
    »Ist das so sicher?« Tong dachte daran, wie Major Feng ihm die ›Mao-Bibel‹ um die Backen geschlagen hatte, und schüttelte den Kopf. »Hier kämpft jeder gegen jeden, und keiner weiß genau, wofür. Es wird getötet, weiter nichts.«
    In den Straßen hörte man Schüsse und das Knattern von Maschinengewehren. Der Leiter der Textilfabrik erbleichte und umklammerte Tongs rechten Arm. »Ob sie uns auch erschießen?« stammelte er. »Oder kommen wir nur in ein Lager?«
    »Sie werden uns erschießen«, sagte Tong ganz ruhig. »Haben Sie Angst vor dem Tod?«
    »Ja! Sie nicht?«
    »Ich bin Arzt, ich habe ein anderes Verhältnis zum Tod als die meisten Menschen. Wenn ich vor einer Krankheit stand und wußte, sie ist unheilbar, dann habe ich zu mir gesagt: ›Dieser Mensch hat sein Leben hinter sich. Man kann's nicht ändern. Man muß es hinnehmen, so wie es ist.‹ Denken wir jetzt auch so, mein Freund! Wir können nichts tun, als auf unseren Tod zu warten.«
    Und sie warteten wirklich. Es wurde Abend, und sie standen noch immer dicht zusammen auf dem Platz, nachdem das Schießen in den Straßen verebbt war. Ein paar Rotgardisten auf Motorrädern brachten dem General, der ebenfalls auf seinem Podest ausharrte, Meldung um Meldung, und dann kletterte ein Offizier mit einem Megaphon neben den General und schrie in die Gefangenenmenge: »Wer ist Arzt? Wir brauchen Ärzte! Alle Ärzte vortreten.«
    Es waren siebzehn Männer, die vortraten, unter ihnen auch Tong, der zuerst zögerte, weil er seinen Sohn nicht allein lassen wollte.
    Aber Jian sagte zu ihm: »Geh nur, Vater! Ich werde dir keine Schande machen.«
    Und Tong antwortete mit Stolz: »Stirb tapfer, mein Sohn Jian! Keinen Schrei! Ein Tong stirbt lautlos.« Erst dann trat er vor und gab sich als Arzt zu erkennen.
    Unter Bewachung traten sie einen Marsch an, der sie zu einer Lehmgrube außerhalb der Stadt führte, und Tong dachte, daß sich eine solche vorzüglich als Massengrab eigne und sie nun wohl die ersten waren, die mit Genickschüssen in die Grube stürzen würden.
    Es war auch ein Massengrab, aber nicht für die Ärzte. Rund um die Lehmgrube lagen schreiende und wimmernde Verletzte. In der Stadt hatte es eine blutige Schlacht zwischen den Rotgardisten und der Zivilmiliz gegeben, und nun brauchte man die Ärzte, die auszusortieren, die am Leben bleiben konnten.
    Tong und seine Kollegen wurden zu Totenrichtern. Sie gingen durch die Reihen der Verwundeten und selektierten: »Du darfst weiterleben, du hast den Tod in dir.« Wer durch einen Lungenschuß blutigen Schaum spuckte – weg mit ihm! Wem die Gedärme aus dem Leib quollen – weg damit! Wem beide Beine abgeschossen waren – weg damit! Wie konnte man hier operieren, auf der blanken Erde, ohne ein Instrument? Tong sah sich ein paarmal um. Drei Kollegen standen ratlos zwischen den langen Reihen der Verwundeten und taten nichts. Er ging zu ihnen und fragte verwundert: »Warum steht ihr nur herum, Kollegen? Warum tut ihr nichts?«
    »Wie kann ich ein Urteil abgeben?« antwortete einer von ihnen. »Ich bin Gynäkologe.«
    »Und ich bin Zahnarzt«, sagte der andere.
    Und der Dritte erklärte: »Ich bin Tierarzt. Wenn das hier Tiere wären, ich würde sie alle töten lassen. Aber so? Wie kann ich ein Urteil abgeben?«
    Tong ging zu den Verwundeten zurück und schritt weiter die Reihen ab.

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