Der Jade-Pavillon
Tong dachte, daß viele, die wieder vom Tisch gehoben wurden und an ein Weiterleben glaubten, in den nächsten Tagen an Infektionen sterben würden.
Gegen Morgen erschien der General im Krankenhaus, warf einen Blick in den Operationssaal und winkte Tong auf den Flur hinaus. Dort wartete mit finsterem Gesicht Major Feng Tiyun.
»Du hast einen Sohn?« fragte der General.
Tong nickte, obgleich sein Herz zu versagen drohte. Er starrte Feng an, aber der blickte zur Seite. »Was ist mit Jian?« fragte Tong mit heiser gewordener Stimme.
»Du hast Leben gerettet«, sagte der General. »Viele Leben von tapferen Patrioten. Ich will dir danken, in dem ich ebenfalls ein Leben rette. Ich habe deinen Sohn mitgebracht; er wartet unten beim Eingang.«
»Danke, Genosse General«, erwiderte Tong. Tränen traten ihm in die Augen, er konnte es nicht verhindern, auch wenn er sich schämte, als Mann zu weinen.
Der General drehte sich schroff um und ging. Die anderen Ärzte stürzten auf Tong zu und gratulierten ihm.
»So etwas hat es noch nicht gegeben!« rief einer von ihnen. »Den Namen des Generals muß man sich merken.«
»Ich weiß nicht, wie er heißt und woher er kommt.«
»Die anderen werden es wissen.«
Aber keiner der Verwundeten wußte, wer der Befehlshaber war. Er war aus Beijing gekommen, hatte das Kommando an sich gerissen, seinen Vorgänger einen Verräter genannt und erschießen lassen, und seitdem führte er die Division mit eiserner Strenge, und niemand wagte es, irgendwelche Fragen zu stellen. Ein bemerkenswerter Mann, der kaum sprach, aber dessen Wink über Leben oder Tod entschied. Um so besser kannte jeder den Major Feng Tiyun. Er war der Henker der Truppe. Mit seinen grün uniformierten Männern tötete er alles, was verurteilt war, im Schnellverfahren, noch auf der Straße, und er ließ auch Frauen und Kinder erschießen, weil ihre Männer oder Väter Intellektuelle waren, Lehrer, Professoren, Rechtsanwälte, eben alle, die studiert hatten und nun als Reaktionäre galten.
Das Wiedersehen zwischen Tong und seinem Sohn Jian war kurz. Sie umarmten sich wortlos, jeder wußte, was der andere dachte.
»Ja, Vater«, sagte Jian, »ich versuche, nach Chengdu zu kommen und, wenn es noch möglich ist, Mutter und Fengxia zu verstecken. Man redet davon, daß die Kulturrevolution im Sterben liegt wie Mao Zedong, den kaum noch jemand sieht. Regieren soll seine Frau Jiang Quing sowie Yao Wenyuan, sein Schwiegersohn. Wir werden uns verstecken, bis Mao gestorben ist. Dann wird alles anders aussehen. Dann wird Deng Xiaoping an die Regierung kommen.«
»Du bist ein kluger, tapferer Junge«, erwiderte Tong voll Stolz. Erst zwölf Jahre ist er alt und hat Mut wie ein Krieger aus den alten Sagen, dachte er. Aus ihm wird einmal ein großer Mann; den Namen Tong wird jeder mit Ehrfurcht nennen.
Seine Prophezeiung erfüllte sich. Nur war es nicht Jian, den man weit über die Grenzen von Yunnan hinaus kannte, sondern Tong Shijun selbst. Jian war es wirklich gelungen, Mutter und Schwester außerhalb von Chengdu bei einem Onkel aufzuspüren, der das Glück hatte, kein Akademiker zu sein, sondern ein Bildhauer, der zuerst Tempel und Pavillons aus dem Marmor meißelte, um dann klug, wie er war, während der Kulturrevolution Tiere herzustellen, vor allem Schildkröten, das Symbol eines langen Lebens, und kleine Truhen und Vögel aller Art und Magnolienbäumchen, blühende Kastanien und sich öffnende Lotusblüten. Und alles in Marmor, Jade oder Speckstein, Schnitzereien so fein, daß man die Adern der Blätter sah. Zwar zog auch bei ihm ein Trupp von Rotgardisten vorbei und nahm alle fertigen Arbeiten mit, aber sie verwüsteten nicht sein Haus, sondern malten mit roter Farbe ein Zeichen an seine Haustür, einen geheimen Hinweis, daß dieses Haus zu schonen sei. Die nachfolgenden Trupps beherzigten das und ließen ihn in Ruhe.
Das war ein gutes Versteck, und hier blieben Jian, seine Mutter und Fengxia, bis die ›Viererbande‹ verhaftet wurde und Maos Kulturrevolution damit offiziell beendet war. Wenige Tage später erreichten die Tongs, auf dem Dach eines Lastwagens sitzend und sich an Tauen festhaltend, ihre Heimat Kunming. Als sie in die Stadt hineinfuhren, war es, als hätten sie sie nie verlassen: Das Leben hatte sich nicht geändert, die Märkte waren voll von Gemüse, Gewürzen, Fleisch, Nudeln, Tofu und Vogelkäfigen, die Kleiderhändler hatten ihre Stände aufgebaut, in großen gläsernen Becken schwammen bunte Zierfische,
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