Der Jade-Pavillon
Spiegel, erschrak ebenfalls und begann am ganzen Leib zu zittern. ›Er ist verrückt geworden‹, rief sie entsetzt. ›Warum nimmt er sich nicht ein junges, hübsches Mädchen? Statt dessen kommt er nach Hause und trägt eine alte, häßliche Eule mit sich herum! Er ist nicht normal – das muß der Bezirksrichter wissen.‹ Und so gingen Mutter und Tochter zum Richter, klagten ihr Leid und reichten ihm den Spiegel hin. Der Richter sah hinein, sein Gesicht verfinsterte sich, und er schrie: ›Was gibt es doch für Menschen! Man mag es gar nicht glauben. Streiten sich wegen Kleinigkeiten und haben noch die Frechheit, vor dem Richter zu erscheinen in der Robe eines Richters. Dieser Bauer da trägt sogar meine Robe! Gibt es denn keine Ehrfurcht mehr?‹ Und so wurde der arme Bauer mit fünfundzwanzig Stockschlägen bestraft und wußte nicht, warum, und er warf den Spiegel in einen Teich, und seitdem spiegeln sich darin die Fische und spielen mit ihrem Spiegelbild.«
Jian schwieg.
Lida saß neben ihrem Büffel im Stroh; sie hatte ihm schweigend zugehört. Jetzt aber sagte sie: »Ein merkwürdiges Märchen. Warum erzählst du mir das?«
»Du hast doch einen Spiegel?«
»Natürlich habe ich einen Spiegel.«
»Und wenn du hineinsiehst, was siehst du da?«
»Mich, wen sonst?«
»Dich, das schönste Mädchen, vor dem alle anderen Schönheiten verblassen. Wollen wir so dumm sein wie der Bauer, die Frau, die Schwiegermutter und der Bezirksrichter?«
»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.«
»Man soll nie etwas verdammen, was man nicht kennt. Laß uns einander besser kennenlernen. Wenn ich jetzt in den Mond blicke, wo ich auch bin, werde ich dein Gesicht sehen, als sei der Mond ein Spiegel. Du wirst immer bei mir sein.«
»Die Poesie hat dich verwirrt«, sagte sie. »Geh hinaus. Ich will schlafen.«
Jian erhob sich von der Kiste. Er bezwang sich, Lida nicht aus dem Stroh zu reißen und an sich zu drücken, er sah sie nur lange an und verließ dann wortlos den Stall.
Lida blieb im Stroh sitzen, unbeweglich, als sei sie eine Puppe, aber plötzlich rann ein Zittern durch ihren Körper, sie warf sich herum, drückte ihr Gesicht an das Fell des Büffels und umarmte seinen starken Kopf. »Hilf mir«, sagte sie. »Er hat mir das Herz weggenommen und trägt es mit sich herum. Ich will es wiederhaben … zusammen mit ihm.«
Draußen stand Jian in der Helle der Mondnacht, und es war ihm, als habe er die Schwere der Erde verlassen und schwebe unter dem Himmel wie ein Schmetterling. Er schrak zusammen, als er Huangs Stimme in der Tür des Hauses hörte, der ihm zurief: »Jian, mein Bett ist für Sie zubereitet. Wir auf dem Land haben nur eine kurze Nacht. Um fünf Uhr beginnt für Lida der Tag. Kommen Sie ins Haus, Jian.«
Um fünf, dachte Jian und ging auf den wartenden Huang zu. Und um fünf Uhr in der Frühe stand Jian vor der Tür, wartete auf Lida, und gemeinsam trieben sie den Büffel zum oberen Kohlfeld, das umgepflügt werden mußte; daß sie zusammen hinter dem Büffel zum Feld gingen, war plötzlich so selbstverständlich, daß keines von ihnen ein Wort darüber verlor.
IV: Der Jade-Pavillon
Nach einer Woche kehrte Jian von Dali nach Kunming zurück. Von Onkel Zhang Shufang brachte er eine Reihe von Bildern mit, die in einer Galerie der Stadt ausgestellt werden sollten, wo sich die Ausländer, die ›Langnasen‹, auf sie stürzen und sie kaufen würden und damit Zhangs Reichtum vermehrten.
Doch bevor Jian in seinen Wagen stieg, trank er mit Zhang noch eine Tasse Tee und starrte schweigend vor sich hin.
»Ich will dich nicht zur Rede ermahnen«, sagte Zhang gütig. »Aber fünf Tage warst du verschwunden, und ich habe mir große Sorgen gemacht.«
»Ich bitte um Verzeihung, Onkel.«
»Auch die Frage, wo du warst, will ich nicht stellen, wenn du es nicht selbst sagst.«
»Ich war in Huili, Onkel Zhang.«
»Wer, wo oder was ist Huili?«
»Ein einsames Dorf der Miao-Minderheit in den Yungu-Bergen.«
»Fünf Tage lang? Was war so interessant an Huili? Eine fremde Kultur?«
»Das auch, Onkel.«
»Was noch?«
»Ein Mädchen.« Jian atmete tief ein und stieß dann die Luft mit einem Seufzer aus. »Ein Mädchen wie eine Aprikosenblüte. Wenn Wunder sich in Menschen verwandeln können, dann ist sie ein Wunder. Wenn du sie siehst, wirst du nur noch sie malen.«
»Du hast dich in sie verliebt?«
»Nein – ich liebe sie. Verliebt sein ist wie eine Blüte, die schnell verdorren kann. Liebe ist wie eine Saat,
Weitere Kostenlose Bücher