Der Jade-Pavillon
Helle. »Warum leise?« fragte er und freute sich über Zhangs offensichtliche Verlegenheit. »Hast du weiblichen Besuch?«
»Es ist viel ärger! Himmel, was machst du hier?«
»Ich bin auf dem Weg zu Lida.« Jian schnupperte in die Luft. Der Geruch des gebratenen Fisches lag noch im Raum. »Der Duft erinnert mich daran, daß ich seit zehn Stunden nichts gegessen habe.« Er sah sich um, erblickte das gebrauchte Geschirr und zählte es. »Du warst nicht allein, Onkel Zhang.«
»Du hast ein waches Auge. Ja, ich habe einen Gast. Er schläft nebenan.«
»Ich wollte durchfahren bis Huili, aber dann wäre ich auf der Schwelle von Huangs Haus eingeschlafen. Fahr weiter zu Onkel Zhang, habe ich gedacht, ruhe dich dort aus und sei morgen frisch, wenn du Lida umarmst. Und nun ist mein Bett besetzt.« Jian sah sich wieder in dem großen Raum um. »Gib mir zwei Decken, und ich lege mich auf den Boden.«
»Du kannst nicht bleiben, Jian.« Zhang strich sich nervös über den schütteren weißen Bart.
»Warum, Onkel Zhang?«
»Ein Drama ist gut auf der Bühne, aber nicht im Leben.«
»Du verweigerst mir deine Gastfreundschaft, auch wenn ich auf dem Boden schlafe?«
»Jian, sieh es nicht als Beleidigung an.« Zhang legte den Finger auf die Lippen. »Und sprich leiser, weck meinen anderen Gast nicht.«
»Ist es ein Mann oder eine Frau?«
»Ein Mann. Ein hochgestellter, ehrenvoller Mann, aber ihr dürft euch nicht begegnen. Ein Blitz, der einen Baum spaltet, wäre ein Streicheln gegen diese Begegnung.«
»Ein hoher Funktionär der Partei? Bei dir, Onkel Zhang?«
»Sieh ihn dir an, Jian. Schleiche auf den Zehen mir nach. Sieh ihn dir nur an.« Zhang ging zur Tür des Nebenzimmers, blickte hinein und sah Tong in tiefem Schlaf auf dem Rücken liegen. Seine Erschöpfung war wie eine Betäubung, auf seinem Gesicht lag das Licht des Mondes, und er atmete schwer, als habe er eine große Last zu tragen.
»Leise«, flüsterte Zhang. »Ganz leise. Und hänge ein Schloß vor deinen Mund, wenn du ihn siehst.«
Auf den Zehen schlich Jian neben Zhang und blickte auf das Bett. Das Erschrecken ließ ihn zusammenzucken, aber sein Mund blieb stumm, wie Zhang ihm befohlen hatte. Er drehte sich um, ging in das Atelier zurück und wartete, bis Zhang die Tür wieder zugezogen hatte. Erst dann fragte er mit leiser Stimme: »Wann ist er gekommen?«
»Heute abend, mit einem kleinen Bus. Die Sorge um dich hat ihn hierher getrieben. Jian, auch wenn er der große Tong ist, er ist zuerst dein Vater.«
Jian setzte sich in den Flechtsessel, in dem zuvor Tong gesessen hatte, und klemmte die flachen Hände zwischen seine Knie. »Ahnt er etwas von Lida? Will er Hinweise von dir?«
»Tong Shijun hat Angst, daß sein Sohn sich den Reaktionären anschließen könnte. In Beijing gibt es unter den Studenten Gruppen, die von mehr Freiheit träumen, was immer das bedeuten mag. Ihn treibt die Angst, daß du eines Tages vor einem Erschießungskommando stehst.«
Jian atmete auf. Beim Anblick seines Vaters hier in Dali hatte er sein Blut in den Adern rauschen hören, und er hatte sofort an Lida gedacht und an die Unerbittlichkeit der Tradition, wenn Tong ihr gegenüberstand. Aber er hatte nun auch Verständnis dafür, daß Onkel Zhang ihn nicht im Haus behalten konnte; denn wenn sein Vater am Morgen erwachte, sich an den Frühstückstisch setzte und ihm, seinem Sohn, gegenübersaß, würde die Erde beben, als kröche der Schwarze Drache aus seiner Höhle und spie Feuer.
»Ich werde mich bei den Fischern ausruhen«, sagte Jian und erhob sich. »Nur zwei, drei Stunden, das muß genügen.«
Zhang begleitete Jian bis zur Tür, und wie ein guter Gastgeber ging er mit ihm auch noch zu dem Auto und wartete, bis Jian eingestiegen war. »Welche Erklärung denkst du dir aus, wenn dein Vater vor dir wieder in Kunming eintrifft?«
»Keine.« Jians Stimme wurde hart. »Ich bin ein erwachsener Mensch mit einem eigenen Leben.«
»Aber du bist auch sein Sohn und hast auf Fragen zu antworten.«
»Ich werde lügen.« Jian steckte den Schlüssel in das Zündschloß. »Es war dein eigener Rat, Onkel Zhang.«
Er fuhr davon, und Zhang sah ihm nach, bis die Rücklichter an einer Biegung des schmalen Weges verschwanden. Dann kehrte er ins Haus zurück, setzte sich ans Fenster und erwartete den Morgen, den ersten Schimmer der über dem See aufsteigenden Sonne, die den Mond zu einer fahlen, fast durchsichtigen Sichel verblassen ließ. »Mein Junge«, sagte er vor sich hin,
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