Der Jade-Pavillon
über ihr Gesicht glitten. »Halte mich fest, Jian, halte mich ganz fest. Kann Glück einen Menschen ersticken?«
Später saßen sie nebeneinander zwischen den runden Steinen am Fluß und verzehrten, was Jinvan ihnen mitgegeben hatte.
»Wie lange bleibst du?« fragte auch Lida, als sie gegessen und die Töpfe wieder in den Weidenkorb gelegt hatten.
»Drei Tage. Das ist das Äußerste, was möglich ist.«
»Drei Ewigkeiten.« Sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter. »Jede Stunde wird eine Blume sein, die wir pflücken.«
»Wir werden wegfahren«, sagte Jian und legte den Arm um sie.
»Wegfahren? Warum? Wohin?«
»Warst du schon mal in Lijiang?«
»Ich bin nicht weitergekommen als bis nach Xiaguan. Es ist der schönste Ort der Welt, ich habe dich dort getroffen.«
»In Lijiang, an einem Hang des Jadedrachen-Bergs, liegt ein altes Lamakloster, und wenn du oben auf den Stufen des Klosters sitzest und auf die weite Ebene hinunterblickst, siehst du gerade jetzt ein Meer von Azaleen in allen Farben leuchten. Auf den Weiden ziehen Rinder, Ziegen und Yaks durch das Gras, und Sammler rupfen Heilkräuter aus dem Boden, deren Wirkung oft nur sie kennen. Es ist das Gebiet der Naxis, eines rätselhaften Volkes, dessen Herkunft man bis heute nicht näher erforscht hat; man glaubt von ihm, daß es vor vielen Jahrtausenden aus dem Nordwesten Chinas in den Süden gewandert ist. Es ist eines der wenigen Völker dieser Erde, bei denen auch heute noch die Frau die Herrscherin der Familie ist und nicht der Mann. Die Wissenschaftler nennen das ein Matriarchat.«
Ungläubig und doch mit einem Lächeln sah Lida in Jians Augen. »Dort haben die Männer nicht alle Macht?« fragte sie.
»Nur in Grenzen. Das tägliche Leben bestimmen die Frauen. Sie entscheiden alles. Ein Ehemann muß zusammen mit seiner Frau sein ganzes Leben im Haushalt seiner Mutter verbringen. Wird ein Mädchen geboren, hat es Anspruch auf ein eigenes Zimmer, ihre Brüder aber müssen in einem Gemeinschaftsraum schlafen. In ihrem eigenen Zimmer empfangen die Mädchen später auch ihre Liebhaber, und die Mütter sind es, die die Ehemänner ihrer Töchter auswählen.«
»Wäre ich eine Naxi, hättest du also wenig zu sagen?«
»Sehr wenig.«
»Du müßtest tun, was ich befehle?«
»Es sind keine Befehle, aber die Frauen bestimmen.«
»Und die Männer beugen sich?«
»Sie kennen es seit Tausenden von Jahren nicht anders.«
Lida lachte, bog sich zurück und sagte mit schräggeneigtem Kopf: »Ich wünsche mir, eine Naxi zu sein. Ich würde dir befehlen, Tag und Nacht: Komm in mein Zimmer und liebe mich.«
»Wünsche dir das nicht.« Jian griff in ihre Haare, zog ihren Kopf zu sich heran und küßte sie. »Die Frauen haben die Herrschaft, also müssen sie auch arbeiten wie die Männer. Die schwerste Arbeit auf den Feldern, in den Steinbrüchen ist ihre Sache. Siehst du irgendwo auf dem Land einen krummen Rücken, ist es eine Frau.«
»Und was tun die Männer?«
»Sie flüchten sich ins Vergnügen.« Jetzt war es Jian, der in Lachen ausbrach. »In keinem Volk in China gibt es so viele gute und begeisterte Tänzer, Sänger und Musikanten wie bei den Naxis.« Er hielt ihr die Hand hin. »Tauschen wir? Du lebst wie eine Naxi-Frau und ich wie ein Naxi-Mann. Du arbeitest, ich tanze und singe.«
»Ich habe dich noch nie singen hören oder tanzen sehen, und sonst wäre es ein Leben, wie ich es jetzt auch lebe. Aber mein Herr bist du und sollst es bleiben.«
Am Abend kehrten sie zu Huangs Haus zurück. Lida trieb den Büffel vor sich her, Jian trug den großen Wäschekorb auf der rechten Schulter, und es war, als wäre es nie anders gewesen, als käme ein junges Bauernpaar nach schwerer Arbeit vom Feld und als hätte die Schwiegermutter das Abendessen zubereitet und den runden Tisch gedeckt. Wie jeden Tag kümmerte sich Lida zuerst um den Büffel, wusch ihm den Dreck von den Beinen und aus dem Fell, als sei er das edelste Tier, und Jian half ihr dabei, schrubbte mit einer langen, harten Bürste das dicke Kopf- und Nackenhaar des Büffels, und das Tier starrte ihn mit seinen großen, runden Augen an, öffnete das Maul, streckte seine lange, rauhe Zunge heraus und leckte Jian über Hand und Unterarm.
»Er mag dich«, sagte Lida. »Du bist sein Freund. Bei jedem Fremden senkt er sonst die Hörner, und eine Hand geleckt hat er noch nie. Selbst mir nicht.« Sie lehnte sich an Jian und duldete es, daß er sie mit beiden Armen umfaßte und seine Hände auf ihre Brüste
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