Der Jade-Pavillon
herrliche Land. »Gibt es Schöneres auf dieser Welt?« fragte sie nach langem Schweigen.
»Nein.« Jian stand hinter ihr und streichelte ihren Nacken. »Das ist das schönste Bild von China überhaupt. Fünfzig Arten von Azaleen blühen hier, sechzig verschiedene Primeln, zwanzig Lilienarten und fünf unterschiedliche Kamelien. Ich zeige dir nachher einen Kamelienbaum, der fünfhundert Jahre alt sein soll. Man nennt ihn die ›Kamelie der zehntausend Blüten‹, und von weither kommen die Leute, bewundern ihn und stehen andächtig vor den großen roten und rosa Blüten. Lijiang ist ein Märchen, das Wahrheit geworden ist.«
»Wie häßlich ist dagegen Huili«, sagte Lida leise. »Wie häßlich.«
»Anders. Es ist anders, Lida. Huili ist ein schönes Dorf mit seinen Gemüsefeldern, seinen Teichen, seinen Reisterrassen, seinen roten Felsen und den mit Steinplatten gedeckten und den Hang hinauf gebauten Häusern. In China gibt es hundert Schönheiten, ob im Norden die Wüsten oder die Schluchten, durch die der Yangtze sich gebrochen hat, ob der Steinerne Wald bei Kunming oder die Kalksteinfelsen von Guilin, die aussehen wie riesige Zuckerhüte. Nur ein Dichter kann Chinas Schönheiten beschreiben und ein Maler sie festhalten, und das tun sie seit Jahrtausenden, immer wieder und immer neu. Auch Huili ist schön, die Dichter und Maler haben es nur noch nicht entdeckt.«
»Du bist ein höflicher Mensch«, sagte Lida und tastete nach Jians Hand. »Ich weiß, woher ich komme. Und es wird ein Traum sein, der nie vergeht, was ich heute sehe.«
»Es ist erst der Anfang.«
Sie schüttelte den Kopf und stand auf. »Es kann nicht noch Schöneres geben.« Sie ging zum Wagen, und als sie einstiegen, fragte sie: »Wohin fahren wir jetzt?«
»Zu einem alten Lamakloster am Jadedrachen-Berg. Nur fünf Mönche bewohnen es, und Chen Xue heißt der oberste Mönch. Niemand weiß, wie alt er ist; die Bauern behaupten, er sei unsterblich und so alt wie der Kamelienbaum im Innenhof des Klosters. Ich war dreimal zu Besuch, und Chen hat mir viel von den geheimnisvollen Dongba-Schriftrollen erzählt, die Gelehrte aus aller Welt anziehen und immer noch ein Geheimnis sind wie das ganze Naxi-Volk. Chen wird sich freuen, mich wiederzusehen.«
Am Fuß des Bergmassivs des Yulongxue Shan hielt Jian wieder an und zeigte den dichtbewachsenen Hang hinauf. Eine schmale Straße wand sich den Berg hinauf und verschwand zwischen den dicken alten Bäumen. Auf halber Höhe des Hanges, unterhalb der Baumgrenze, wo die Felsen kahl wurden, sah man den rot und gelb gestrichenen First eines Daches. In der Sonne funkelte er, als sei er in Gold geschnitzt.
»Das ist Chens Tempel«, sagte Jian. »Auch hierher sind die Rotgardisten der Kulturrevolution Maos gekommen und haben gewütet. Chen und seine vier Mönche haben in jahrelanger Arbeit versucht, das Gesicht des alten Tempels und Klosters wiederherzustellen. Sie arbeiten heute noch daran, denn sie haben keine Reichtümer und leben von den Spenden der Besucher und von dem Geld, das sie für die Behandlung der Kranken nehmen.«
»Es sind Ärzte?«
»Nein, aber sie kennen die Geheimnisse von über siebenhundert Heilpflanzen, und irgendein Saft oder Pulver hilft immer. Lijiang ist nicht nur ein Königreich der Blumen, sondern auch ein Königreich der Naturmedizin. Unsere traditionelle Medizin kannte schon während der Qing-Dynastie fast vierhundert Pflanzen, aus denen man ein Medikament machen kann. Heute sind es noch viel mehr Heilkräuter, Samen und Wurzeln, vor allem der Ginseng, der hier genauso gut ist wie der aus Korea und Japan. Über hundertundvierzig Medikamente werden in Lijiang hergestellt – mein Vater weiß das genau, er ist der große Kenner der traditionellen Medizin –, und es gibt Mittel, die besser sind als die chemischen Präparate der westlichen Medizin, die über uns lächelt. Seit über einem Jahrhundert versucht sie, die Epilepsie mit Medikamenten zu heilen, aber der Erfolg ist mäßig. Wir heilen diese Krankheit mit Tabletten aus Cynanchum otophyllum, reinen Pflanzenprodukten.«
»Du redest wie ein Professor! Aber du wirst ja auch einer werden.« Lida lachte und blickte wieder zu dem golden schimmernden Dachfirst des Klosters hinauf. »Was ist Epilepsie?«
»Eine Krankheit, bei der die Menschen zu Boden fallen, sich in Krämpfen winden und nicht mehr wissen, was sie tun. Das ist jetzt ganz einfach erklärt, aber es ist eine komplizierte Krankheit, die du nicht verstehen
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