Der Jade-Pavillon
Anrufen Gottes.
Lida und Jian stellten ihre Teetassen auf den Boden, erhoben sich, verneigten sich vor Chen und verließen den Innenhof des Priesterhauses.
Erst unten am Wagen fand Lida ihre Sprache wieder. »Was hat er gesehen?« fragte sie, und ihre Stimme klang wie erstickt.
»Die Weide bist du, und der Baum bin ich«, antwortete Jian.
»Aber die Erde ist rot wie von Blut.«
»Das ist etwas, was ich auch nicht verstehe.«
»Und die Bäume, die ein Sturm entlaubt?«
»Ich weiß es nicht. Chen sieht mehr als jeder andere Mensch.«
»Er hat nur Böses gesehen, Jian.«
»Er hat aber auch von einem Zauberer gesprochen, der die Bäume in eine sichere Erde verpflanzt.« Jian hob ratlos die Schultern. Er blickte zu dem Tempelbezirk hinauf, links das Kloster, rechts das Wohnhaus von Chen, und schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn noch nie so ernst gesehen. Er ist sonst ein fröhlicher Mensch, aber als er in deine Augen blickte, Lida, öffnete sich vor ihm die Zukunft, und er sah Geschehnisse, die wir nicht begreifen können. Vielleicht wollte er uns damit warnen.«
»Vor wem oder was warnen, Jian?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du Feinde?«
»Nein.« Jian schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe nur einen Gegner.«
»Wer ist es?«
»Leider mein Vater.«
»Weil du eine kleine, arme Miao liebst.«
»Er weiß es noch nicht.«
»Du hattest nicht den Mut, es ihm zu sagen? Du hast mich versteckt, weil du weißt, daß er dich zwingen kann, mich nicht mehr zu sehen. Oder schämst du dich, weil ich die Tochter eines armen Dorfschullehrers bin?«
»Lida!« Jian fuhr herum und wollte den Arm um sie legen und sie an sich ziehen, aber sie wehrte ihn ab, und er war verblüfft, wie stark sie sein konnte, als sie ihn wegdrückte. »Ich wollte meinem Vater alles sagen, aber dann bin ich dem Rat von Onkel Zhang gefolgt. ›Erst in vier Jahren könnt ihr heiraten‹, sagte er. ›Es reicht, wenn es dein Vater kurz vorher erfährt. Geh einem vierjährigen Familienkrieg aus dem Weg, er zermürbt mehr als eine vierjährige Lüge. Mit einer Lüge kann man leben, jeder Mensch lebt mit seinen Lügen, aber ein Krieg ist Vernichtung. Schütze deine Liebe, indem du sie unsichtbar machst.‹ Er ist ein weiser Mann, Onkel Zhang.«
»Und wenn ich in diesen vier Jahren ein Kind von dir bekomme?«
»Das wird nicht sein. Es gibt im Westen eine Pille, die das verhindert. Ich werde sie uns über Hongkong kommen lassen.«
»Und wenn es jetzt, in diesen drei Tagen, passiert?«
Jian blickte wieder zu dem Kloster und dem Wohnhaus von Chen hinauf. »In seiner Vision kam kein Kind vor. Chen hätte auch das in deinen Augen gelesen.«
»Wann willst du deinem Vater die Wahrheit sagen?«
»Kurz, bevor ich meine Schlußprüfung mache. Dann hat er keine Macht mehr über mich.«
»Aber jetzt hat er die Macht.«
»Er ist eine Berühmtheit, die zu den tausend Persönlichkeiten gehört, die im Buch der Auserwählten der Volksrepublik China stehen. Ein Wort von ihm, und ich muß Kunming verlassen! Er kann mich an die Universität von Shanghai oder Guangzhou versetzen lassen, und das wäre noch eine Gnade. Es gibt heute über hundert Universitäten, an denen Medizin gelehrt wird, und über fünfhundert medizinische Fachschulen. Mein Vater hätte also genügend Auswahl, mich irgendwohin zu verbannen.«
»Und das würde er tun?«
»Sofort! Ohne Bedenken.«
»Und meinen Vater würde er vernichten.«
»So weit reicht sein Einfluß nicht, aber er würde in Huili große Schwierigkeiten machen.«
»Und das soll in vier Jahren anders sein?«
»Ja.« Jian legte den Arm um Lidas Schultern, und diesmal stieß er auf keine Abwehr. »Wenn ich mein Arztexamen habe, bin ich frei. Dann hat er keine Macht mehr über mich. Wir werden dort, wo es uns gefällt, ein Haus bauen, und ich werde eine Arztpraxis aufmachen. Wir werden alles Glück dieser Welt in unseren Händen halten.«
»Wenn meine Einheit und die Gesundheitsbehörde es erlauben.«
»In vier Jahren kann alles anders sein. China ist kein isolierter Staat mehr, ohne die Öffnung zur übrigen Welt würde es politisch und wirtschaftlich verkümmern. Deng Xiaoping ist ein kluger Mann, der aus der abgeschlossenen Insel China eine wirkliche Weltmacht machen will. Die Versöhnung mit Rußland und die neuen Kontakte mit den westlichen Staaten sind ein Anfang, sind Signale eines neuen China.«
»Und vier Jahre lang willst du mich vor deiner Familie verstecken?« wiederholte Lida. »Sollen wir uns heimlich
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