Der Jade-Pavillon
Bäume konnten laufen und die Steine sprechen!‹ Sieh dich um – sie können es heute noch.«
Nach der Überquerung des Gebirgszuges Mianmian Shan lag auf einmal Lijiang vor ihnen, breit in ein weites Tal gebettet. Die Sonne glitzerte auf den dicht aneinandergedrängten grauen Dächern der Altstadt; in der Ferne, doch zum Greifen nahe, leuchteten die Gipfel des Jadedrachen-Bergs und glänzte der ewige Schnee auf dem Massiv des Shanzidou, und der Jinsha-Fluß umkreiste in weitem Bogen Stadt und Ebene, als wäre er der Rahmen eines grandiosen Gemäldes.
Jian hielt den Wagen an und stieg aus. Er zog Lida vom Sitz, drückte sie an sich und machte eine alles umfassende Armbewegung. »Kann man so einen Anblick jemals vergessen?« rief er. »Hier hat auch der große Khublai Khan gestanden und sein Herz vor dieser Schönheit festgehalten, und die Schamanen der Naxis zauberten die Krankheiten weg, beobachteten die Sterne, trieben die Teufel aus den Körpern der Besessenen und stimmten die Götter gnädig oder baten mit Feuer- und Säbeltänzen um ihre Hilfe. Lida, das ist ein Land, das die Götter mit ihren eigenen Händen aus einem Erdenkloß geformt haben.«
»Es ist wunderschön«, sagte Lida leise. »Laß uns eine Weile hier bleiben.«
Sie setzten sich an den Straßenrand, und nachdem sie Jinvans Weidenkorb geholt hatten, aßen sie von dem Obst, tranken eine Tasse Tee und waren fast trunken vom Anblick des Jadedrachen-Bergs und des schillernden Jinsha-Flusses, der später zum Yangtze wird, dem mächtigsten Strom Chinas. Als sie dann in die Ebene und zur Stadt hinunterfuhren, erblickten sie blühende Kamelienbäume, ein Meer von Blüten, und Jian sagte: »In Lijiang sollen zwanzigtausend Kamelien blühen, und die größte Blüte, die einen Durchmesser von dreiundzwanzig Zentimetern hat, ist zugleich die größte Kamelie der Welt.«
Jian fuhr über die Wuyi-Straße in die Stadt, bog dann in die Xinhua-Straße und die breite Neue Straße ab und hielt vor einem großen, massiven Gebäude, das zwischen dem Kinderpalast und dem Yunling-Theater, schräg gegenüber der Post, lag. Das Gästehaus Nummer zwei.
Hinter der Theke des Empfangs saß eine junge Frau und sah Jian gelangweilt an, als er die Tür aufstieß und eintrat. »Kein Zimmer frei«, sagte sie, bevor Jian fragen konnte, und musterte ihn vom Kopf bis zu den Schuhen. Jian trug Jeans, die jetzt auch in einer Fabrik in Shanghai hergestellt wurden, und halbhohe Trainingsschuhe, womit er sich als ein Durchreisender auswies, an dem die junge Frau nur wenig Interesse hatte. Gäste für eine Nacht machten nur viel Arbeit und ließen wenig Geld da, und weil das Gästehaus ein staatlicher Betrieb war, machte es gar nichts aus, ob alle Betten belegt waren oder nicht – der karge Lohn wurde immer ausgezahlt.
Jian lächelte, trat an die Theke und sagte: »Wir wollen drei Tage bleiben und dafür ein schönes Zweibettzimmer haben. Und ein Bad und einen Farbfernseher. Ich weiß, daß ihr dreißig Zimmer mit Bad und TV habt.«
Die junge Frau lächelte zurück, blickte nach hinten zu den Schlüsseln, die an blanken Haken hingen, nahm einen Schlüssel und schob ihn Jian zu. »Zimmer einundzwanzig«, sagte sie. »Sie kennen unser Haus? Je Nacht vierzig Yuan. Können Sie das bezahlen?«
Es war eine ungehörige Frage, und Jian mußte, um sein Gesicht zu behalten, scharf darauf antworten. »Wo ist der Direktor?« rief er empört. »Ich will ihn sofort sprechen. Sofort! Ich komme aus Kunming, und ich werde es der Zentrale für Fremdenverkehr melden!«
»Wir sind nur Menschen, und Menschen irren sich«, antwortete die junge Frau, während in ihrem Gesicht das Lächeln erfror. »Sitzen Sie mal eine Woche hier, wo ich sitze, und dann sagen Sie mir, was Sie tun würden, wenn in einer Woche neun Gäste nicht bezahlt und sich aus dem Staub gemacht haben. Die Ehrlichkeit fällt der neuen Zeit zum Opfer. Früher war es eine Schande zu betrügen, heute ist es ein Sport.« Sie legte ihre Hand auf den Schlüssel, als müsse sie ihn verteidigen. »Nehmen Sie Zimmer einundzwanzig?«
»Natürlich nehme ich es.«
»Wo ist Ihre Begleiterin?«
»Meine Frau sitzt draußen in dem Auto.« Jian sagte es ohne Hemmungen, denn es wäre eine Beleidigung für Lida gewesen zu sagen, daß er das Zimmer mit einem Mädchen bewohnen wollte. Man hätte Lida wie eine Konkubine gemustert und spöttische Blicke auf sie geworfen.
»Sie haben ein eigenes Auto?« fragte die junge Frau und gab den Schlüssel frei.
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