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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wirst.«
    »Ich weiß, ich bin dumm.«
    »Lida, so war das nicht gemeint.«
    »Ein guter Arzt muß alles erklären können.« Sie stieg wieder in den Wagen und zog die Tür zu. »Es fehlt noch viel, bis du ein guter Arzt bist.«
    »Das stimmt.« Jian setzte sich hinter das Lenkrad und sah Lida an. »Weißt du, was du bist?«
    »Deine Frau.«
    »Und eine Tigerin, die ihre Krallen braucht.«
    »Hat es weh getan?«
    »Nein. Auch deine Krallen sind für mich ein Streicheln.«
    Sie küßte ihn auf den Hals, zeigte dann nach oben und sagte: »Fahr zu Chen Xue. Er wird mir sicherlich erklären können, was Epilepsie ist.«
    Chen, der Lamamönch ohne Alter, erwartete sie auf der obersten Stufe der ausgetretenen Steintreppe, die von den Jahrhunderten blank gescheuert war. Von einer bestimmten Stelle aus konnte man die Straße übersehen und weit in die Ebene blicken, und so gab es nichts, was Chen überraschen konnte. Verwunderlich war nur sein scharfes Auge in einem Gesicht, das wie gefaltetes Pergament aussah, gegerbt von Sonne, Wind, Schnee und Regen. Chen trug einen bodenlangen roten Umhang und eine bestickte Kappe auf dem weißen Haar, und sein schütterer Bart erinnerte Jian an den Bart von Onkel Zhang, durch den seine Finger strichen, wenn er nachdachte. Die Sandalen an Chens Füßen waren von ihm selbst genäht; man sah es an den groben Stichen.
    »Tong Jian«, sagte Chen mit heiserer Greisenstimme, »willkommen!« Dann sah er Lida an und nickte mehrmals. »Du hast deine Braut mitgebracht?«
    »Wie willst du wissen, daß es meine Braut ist?«
    »Ich lese es in ihren Augen.« Chen lächelte. »Kommt in mein Haus«, sagte er und zeigte auf ein Haus, das etwa dreißig Meter vom Kloster entfernt an einem Abhang mit blühenden Azaleen und Kamelien stand; es war rot, gelb und blau gestrichen. »Es ist eine Freude, euch zu sehen. Studierst du noch, Jian?«
    »Noch fast vier Jahre, ehrwürdiger Meister.«
    »Ein langes Studium. Und was kennst du dann?«
    »Die Ursachen und die Bekämpfung der Krankheiten des Menschen.«
    »Wirklich?« Chen lächelte wieder. »Der Glaube ist ein Berg, dessen Gipfel man nie erreicht.«
    Er ging zu seinem Wohnhaus voraus, und sie kamen in einen Innenhof, in dessen Mitte ein uralter Kamelienbaum und eine Vielzahl von Blumen in Beeten oder tönernen Schalen und Kübeln blühten. Von dem Innenhof gingen die geschnitzten und bemalten Türen in das Schlafgemach und die Küche, zum Hausaltar und in die Bibliothek ab, in der die Geschichte des Lamaklosters gesammelt war und die Erkenntnisse, die man über das Volk der Naxis gewonnen hatte.
    Lida und Jian setzten sich auf die niedrigen Holzstühle, die unter der Kamelie standen, und während Chen in der Küche verschwand, um Teeblätter, heißes Wasser und Tassen zu holen, sagte Lida leise: »Er hat merkwürdige Augen. Hast du das auch gesehen?«
    »Es sind Augen, aus denen die Weisheit spricht.«
    »Nein, es sind Augen, die dich ansehen, als wärst du aus Glas. Er sieht alles in dir, und er sieht, was du denkst.«
    Chen kam zurück, verteilte die Tassen, streute den grünen Tee hinein und übergoß ihn mit dem heißen Wasser. Er hatte sich umgezogen, trug jetzt sein Priestergewand und nahm die tibetische Gebetsmühle in die rechte Hand, nachdem er seinen Besuch bedient hatte. Wieder sah er Lida mit seinen geheimnisvollen Augen an, und ein Gefühl der Wärme durchrann sie, als läge sie in der Sonne.
    »Du hast das Glück geschenkt bekommen«, sagte Chen plötzlich. »Aber nicht immer ist Frühling, und es wird Gewitter geben, und Blitze spalten die Bäume.« Er beugte sich vor. Sein Blick durchdrang Lida, und er ergriff ihre Hände. »Ich sehe einen jungen Baum, der sich im Sturm biegt, aber nicht bricht. Und ich sehe eine Weide, die nach Wasser verlangt, und ein Beil, das sie fällen will. Die Erde ist rot wie von Blut, und ein Sturm entlaubt die Blätter und treibt sie vor sich her in die Weite des Landes. Aber der Baum und die Weide trotzen dem Wind, und ein Zauberer trägt sie mit allen Wurzeln in ein anderes Land und pflanzt sie dort ein.« Er ließ Lidas Hände los und lehnte sich zurück. Er schloß die Augen, die Lida umhüllende Wärme verflog, und sie klammerte sich an Jian, denn es sah aus, als würde Chen nach diesen Visionen sterben.
    Aber es war nur eine vorübergehende Erschöpfung. Nach wenigen Minuten richtete er sich wieder auf, griff nach der Gebetsmühle, ließ die Kugeln kreisen, und nur seine Lippen bewegten sich im lautlosen

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