Der Jade-Pavillon
treffen, einmal einen Tag, das andere Mal zwei Tage, und jedesmal, wenn du wieder wegfährst, tut mir das Herz weh?«
»Wir müssen durchhalten, Lida. Wir müssen alle Kraft aus unserer Liebe nehmen.«
»Und wenn dein Vater doch von mir erfährt?«
»Dann wird es Krieg geben, Krieg zwischen ihm und mir.«
»Und der große Tong wird siegen.« Sie sah ihn mit geweiteten Augen an und sagte völlig ruhig: »Dann werde ich mich töten.«
»Lida!« rief Jian entsetzt. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»Auch wir Miaos haben unsere Ehre, nicht nur die Hans. Ohne dich gibt es kein Leben mehr für mich. Für mich ist die Welt klein geworden, ganz klein – du bist sie, du allein. Wie kann ich leben, wenn es keine Welt mehr gibt?« Sie drehte sich um und riß die Wagentür auf. »Laß uns weiterfahren, Jian. Ich habe Angst vor diesem Tempel und vor Chen Xue. Warum hat er beschrieben, was er gesehen hat? Was bedeutet das Blut auf der Erde?«
»Ich habe keine Deutung dafür, Lida.«
»Könntest du im Streit um mich deinen Vater töten?«
»O Himmel, stelle nicht eine solche Frage! Natürlich könnte ich es nicht.«
»Du würdest eher unsere Liebe töten?«
»Nein. Ich würde sogar darauf verzichten, ein Arzt zu werden, würde nach Huili kommen, hinter dem Pflug mit dem Büffel die Felder aufreißen, neue Reisterrassen bauen, aus den Felsen Steine schlagen und daraus unser Haus errichten.«
»Und wärst dein Leben lang ein unglücklicher Mensch! Ein armer Bauer, der ein reicher Arzt sein könnte! Und die Familie Tong würde auf uns einschlagen, bis wir wie Hunde winselnd am Boden liegen.« Sie setzte sich in den Wagen und starrte durch das Fenster auf die schmale Straße, die den Berg hinab führte. »Jian, in zwei Tagen fährst du wieder weg – laß uns die Augen schließen und nicht mehr daran denken, was Chen Xue gesagt hat. Ich will in deinen Armen einschlafen und aufwachen und nichts wissen, als daß du bei mir bist.«
Jian nickte und dachte wieder daran, was Onkel Zhang gesagt hatte: daß es nicht nur einen Kampf gegen seinen Vater, sondern auch gegen seine Schwester Fengxia und ihren Mann Wu Junghou geben werde, zwei kommunistische Funktionäre, die noch mehr Macht hatten als der alte Tong. Und sie würden diese Macht auch zeigen, schon um den Aufsässigen zum Gehorsam zu zwingen.
Er stieg in sein Auto, zog die Tür zu, sah Lida mit einem stolzen Blick an, küßte ihren Hals und sagte: »Wir werden es schaffen, mein Liebling. Was ist stärker in unserem Leben als die Liebe? An dieser Mauer zerschellen ihre Köpfe. Du hast keinen Grund, Angst zu haben.«
»Und wohin fahren wir jetzt?« fragte sie.
»Nach Dali. Aber zuerst besuchen wir den Schwarzen-Drachen-Teich in Lijiang. Es gibt kein schöneres Bild in China, als am Teich zu stehen, in dem sich der Schneegipfel des Jadedrachen-Bergs, der Drachengott-Tempel und Deyuelou, der Mondpavillon mit der gebogenen weißen Marmorbrücke, spiegeln. Du wirst diesen Anblick nie vergessen.«
»Ich werde alles vergessen, wenn du bei mir bist«, sagte Lida. »Leg mir die Schönheit der ganzen Welt zu Füßen, ich will sie nicht – ich will nur auf dich warten.«
Sie fuhren nach Lijiang zurück, vorbei am Jade-See, und hielten vor dem Baum der zehntausend Kamelienblüten, dessen Stamm fünfhundert Jahre alt sein sollte. Hier tat Lida etwas Verbotenes: Sie pflückte von einem Ast eine große rote Blüte und steckte sie in ihr schwarzes Haar. Sie kostete Jian fünf Yuan, mit denen er den Wächter dazu brachte, zur Seite zu blicken.
Und dann standen sie am Ufer des Schwarzen-Drachen-Teiches, und Lida tastete nach Jians Hand, umklammerte sie und war stumm vor so viel Schönheit und erhabener, andächtiger Stille. Der Yulongxue Shan mit seinen dreizehn Schneegipfeln spiegelte sich im klaren Wasser, Fischschwärme durchzogen es und sammelten sich unter den Sonnenstrahlen, und die weiße Marmorbrücke mit dem Mondpavillon glänzte im Licht; rechts von ihr schimmerten die geschnitzten, bunten Dächer des Tempels der fünf Phönixe, des größten Heiligtums des geheimnisvollen Naxi-Volkes, durch das Geäst der Weiden und Kastanien.
Auch Jian schwieg, und obwohl er schon öfter hier gestanden hatte, wenn er Onkel Zhang besucht hatte, ergriff ihn doch jedesmal all diese Schönheit, und er begriff einen von Zhangs Versen, der lautete: »Wenn dein Auge trunken wird und deine Seele hinauffliegt wie ein Kranich zur Sonne, dann stehst du am Teich des Schwarzen Drachens und
Weitere Kostenlose Bücher