Der Jadereiter
daß mehr als zehn Stunden vergangen sind, seit er Ferrai ins Loch hat werfen lassen.
Das Loch ist eine runde Aushebung hinter dem Polizeirevier, die ursprünglich für die Kanalisation oder aus irgendeinem anderen baulichen Grund gegraben, dann aber nicht genutzt wurde. Ruamsantiah ließ eine Falltür mit Vorhängeschloß anbringen. Die Armen, die darin landen, bekommen nur durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Boden Luft von außen. Ich brauche ein paar Minuten, um den Schlüssel zu dem Schloß zu finden, und jemanden, der mir hilft, den Jungen aus dem Loch zu ziehen. Ich bin erleichtert, daß er sich noch auf den Beinen halten kann. Allerdings hat er keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Adam Ferrai von vorher. Er stolpert orientierungslos herum, bevor ich den Arm um ihn lege und ihn ins Gebäude dirigiere, wo er gegen den Schreibtisch am Empfang stößt, dann gegen die Mönche. Ich führe ihn zu ein paar leeren Stühlen im hinteren Teil. Plötzlich fängt er zu schluchzen an. Mir fällt nichts Besseres ein, als ihm den Rücken zu tätscheln und zu warten. Nur wenige der Anwesenden sehen sich nach ihm um; schon kurz darauf drehen sie den Kopf wieder nach vorn, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. Dies ist District 8. Es dauert zehn Minuten, bis der Junge zu schluchzen aufhört, dann zieht er die Hutnadel aus seiner Augenbraue und reicht sie mir.
»Das müssen Sie nicht tun.«
»Ich mache das nicht für Sie oder den Sergeant.« Seine Stimme klingt erstaunlich fest, doch soweit ich mich erinnere, hat sie kaum noch Ähnlichkeit mit der vom Morgen.
»Da unten in dem verdammten Loch habe ich Christus, Gott, Krischna, Mohammed, Zeus, dem Buddha und allen andern, die mir zuhören wollten, versprochen, das Ding rauszuziehen, wenn ich noch halbwegs klar im Kopf bin, sobald ich rauskomme. Mein Alter haßt es, er nennt es eine Entstellung. Ich quäle ihn seit zwei Jahren damit. Aber den Nasenstecker behalte ich.«
»Da waren Sie aber mit ’ner ganzen Menge Gottheiten in Kontakt.«
»Mehr als in Kontakt«, sagt Ferrai und richtet den Blick auf die Wand am anderen Ende. »Ich habe zehn Scheißstunden mit denen geredet. Sie haben mir geholfen, wissen Sie?«
»Ja«, sage ich, »ich weiß.«
»Sie waren auch schon da drin, stimmt’s?«
»Ja.«
Er tippt auf meinen Arm. »Der Buddha ist toll, was? Hat wirklich Sinn für Humor. Hat er Ihnen auch Witze erzählt?«
»Nein, so nahe sind wir uns, glaube ich, nicht gekommen.«
Ferrai schüttelt den Kopf. »Ich hab mich vor Lachen gekugelt, Mann. Tja, danke für die Erfahrung.«
»Ich freu’ mich schon auf den Internetbericht darüber.«
Ferrai sieht mich an, als hätte ich etwas Frevelhaftes gesagt, rappelt sich hoch und stolpert in Richtung Straße davon. Ich halte seine Hutnadel in der Hand, sehe ihn nicht ganz ohne Neid verschwinden. In fast zwei Jahrzehnten der Meditation hat der Buddha mir keinen einzigen Witz erzählt. Darüber würde man doch sicher bis in alle Ewigkeit lachen, oder?
In meinem Zimmer schalte ich wieder die Sendung von Pisit ein. Seine Lieblingsprofessorin beantwortet gerade die Frage eines Anrufers, was die Prostitution mit der Psyche der Mädchen anstellt und was für Ehefrauen sie für die merkwürdigen farang- Männerwerden, die sie heiraten.
»Die Prostitution läßt die Frauen anfangs auf fast unmerkliche Weise altern. Das hat nichts mit dem Sex zu tun, der vollkommen natürlich ist, sondern mit dem emotionalen Streß des ständigen Betrugs. Schließlich macht der Kunde nur einem einzigen, nämlich sich selbst, vor, daß das, was er tut, eine tiefere Bedeutung besitzt. Das Mädchen hingegen muß innerhalb einer Nacht mehrere Männer anlügen. Dieser Streß hat Auswirkungen auf die Gesichtsmuskulatur, läßt sie verkrampfen, führt zu jenem harten Blick, für den Prostituierte bekannt sind, aber noch wichtiger: Insgeheim entwickeln sie tiefe Ressentiments. Wenn sie tatsächlich einen Mann finden, der bereit ist, für sie zu sorgen, geben sie als erstes die Rolle der Sexgöttin auf und damit auch den Charme. Unwillkürlich machen sie den Fehler anzunehmen, der Kunde wolle ihr wahres Ich heiraten, nicht das Phantasiebild, obwohl er doch nur das kennt. Dann folgt eine drastische Veränderung des Äußeren. Viele von den Mädchen nehmen Hormone ein, um ihre Brüste zu vergrößern, aber wegen der Erhöhung des Krebsrisikos raten die Arzte ihnen von einer länger als ein Jahr dauernden Einnahme ab. Außerdem laufen in Bangkok alle Nutten
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