Der Jäger
seit du das Haus verlassen hast. Ich war immer in deiner Nähe, und ich werde es auch bis zuletzt bleiben. Oder nein, ich muss ja gleich noch mal weg, doch ich komme schon sehr bald wieder. Unser Spiel ist noch längst nicht zu Ende. Lass dich einfach überraschen. Du bist übrigens von allen die Schönste, nur Judith konnte sich mit dir messen. So wunderschön. Hättest du nicht zwei Wochen später geboren werden können? Zwei Wochen, und du müsstest das hier nicht erleben. Aber ich frage mich, ob du dann auch so schön geworden wärst. Ob deine Augen dann immer noch dieses Magische, dieses Feuer gehabt hätten. Ich weiß es nicht. Ach ja, bevor ich gehe, noch einen Rat, spar dir deine Kräfte und mach dir keine Mühe, freizukommen, es wird dir nicht gelingen. Keine hat es bis jetzt geschafft. Und dieses Haus ist so einsam, so leer, hier hört dich niemand. Mach’s gut und versuch ein bisschen zu schlafen. Ich bin bald zurück.«
Maria van Dycks Herz schlug mit Gewalt in ihrer Brust, als wollte es ihren Brustkorb zersprengen, die Übelkeit rührte mitriesigen Löffeln in ihren Eingeweiden. Ihr Körper war ein einziger großer Schmerz, der nur noch übertroffen wurde von ihrer Angst, sterben zu müssen. Die sanfte Stimme hallte in ihren Ohren nach, die alles verbrennende Glut der Augen war überall, auch wenn sie sie nicht mehr sah.
Was hatte sie verbrochen, dass sie so gestraft wurde? Was? Sie weinte stumme Tränen, Tränen, die niemand sah und die keinen interessierten.
Sie hörte das Zuschnappen der Tür, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Sie war allein. Sie weinte, ihr Körper bebte unter der Qual ihrer Seele und dem Schmerz, der ihr zugefügt worden war.
Irgendwann war sie eingeschlafen, hatte jegliches Zeitgefühl verloren, wusste nicht, wie lange sie allein gewesen war, als sie plötzlich die warmen Hände auf ihrer Brust spürte. Würde es doch ein gutes Ende nehmen? War der Albtraum bald vorbei? Mit einem Mal fielen eiskalte Tropfen auf ihre Brustwarzen, die sich zusammenzogen und steil aufrichteten. Und dann verlor sie fast das Bewusstsein durch den furchtbarsten, alle Sinne raubenden Schmerz, der ihr je zugefügt worden war.
»Hallo, Maria! Hier bin ich. Ich werde dir jetzt die Augenbinde abnehmen. Dein Körper ist jetzt nicht mehr makellos. Aber im Jenseits wird er es wieder sein. So, und nun beenden wir das Spiel.«
Maria van Dyck war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sie ließ sich willenlos die Beine spreizen, den Stich der Nadel durch ihre Schamlippen merkte sie kaum. Sie sah, wie die Person hinter sie trat, ihren Kopf ein wenig anhob und etwas Kaltes um ihren Hals legte. Ein kräftiger Ruck, der ihr die Luft abschnürte, ihre Augen waren vor Todesangst geweitet und schienen fast aus den Höhlen zu treten. Der Todeskampf dauerte etwa drei Minuten. Maria van Dycks Kopf fiel zur Seite. Das Spiel war vorbei.
Donnerstag, 15.00 Uhr
Julia Durant war nach dem Essen in ihr Büro gegangen, um noch einmal die Akten durchzusehen, bevor Richter kam. Sie führte sich alle Details vor Augen, machte sich zum wer weiß wievielten Male Notizen, rauchte dabei drei Gauloises und trank zwei Tassen Kaffee, schlug schließlich die Akten zu und lehnte sich zurück. Sie kam sich vor wie eine Schülerin, die sich auf die alles entscheidende Prüfung vorbereitete, schalt sich eine Närrin, etwas zu suchen, was doch nicht zu finden war. Sie schloss die Augen, die Gedanken an Lewell ließen sie nicht los. Ihre letzte Hoffnung war Richter, aber sie hatte sich vorgenommen, diese Hoffnung nicht zu hoch zu schrauben. Richter war auch nur ein Mensch, er war kein Hellseher, selbst wenn er in der Vergangenheit der Polizei hervorragende Dienste geleistet hatte. Er erkannte Zusammenhänge, die Normalsterblichen in der Regel verborgen blieben. Er verfügte über die außergewöhnliche Gabe, sich in die Psyche des Täters hineinversetzen zu können, und das allein aufgrund von Tatortfotos, der Lebensgeschichte eines oder mehrerer Opfer, den Berichten der Spurensicherung sowie der Rechtsmedizin. Richter war in der Lage, daraus die Spur vom Opfer zum Täter zurückzuverfolgen und eine exakte Persönlichkeitsbestimmung, ein Psychogramm, zu erstellen. Wenn überhaupt noch jemand helfen konnte, dann Richter.
Hellmer kam zu ihr und setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch.
»Na, wie geht’s dir?«, fragte er.
Julia Durant gähnte und schüttelte leicht den Kopf. »Beschissen. Ich wünschte, dieser Albtraum wäre
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