Der Jäger
Wut, Rache …?«
»Auf jeden Fall plant er seine Morde. Und wer plant und diesen Plan auch ausführt, handelt kaltblütig. Oder nenn mir ein anderes Wort dafür.«
Julia Durant zuckte nur die Schultern. Zusammen gingen sie zurück in die Wohnung und schlossen die Tür hinter sich.
»Ich kann mir im Moment überhaupt nicht vorstellen, was füreine Persönlichkeit der Täter ist. Ich hab nicht mal den Hauch einer Ahnung, wie er aussehen könnte, was seine Beweggründe sind, warum er dieses seltsame Aufbahrungsritual veranstaltet … Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Phantom, ich nehm ihn nicht einmal in Umrissen wahr. Bei früheren Fällen hatte ich zumindest immer eine gewisse Vorstellung, die mir diesmal aber völlig fehlt.« Sie sah Hellmer fast Hilfe suchend an. »Hab ich vielleicht meinen Instinkt oder meine Intuition verloren? Hat dieser Job mich so abgestumpft, dass ich nur noch mit dem Kopf und überhaupt nicht mehr mit dem Bauch denke? Früher habe ich auf meine innere Stimme gehört und das, was ich gehört habe, versucht im Kopf zu verarbeiten. Ich glaube, ich habe diese Fähigkeit verloren. Schau dir doch nur mal Kullmer an, er hat uns heute Mittag gezeigt, worauf ich vor zwei oder drei Jahren noch selbst gekommen wäre. Scheiße!«
»Julia, du hast nichts von dem verloren. Du bist nicht vollkommen, und es stimmt, irgendwann, wenn man es lang genug macht, stumpft jeder in diesem Job ab. Und du hast es in den letzten Jahren weiß Gott nicht einfach gehabt. Aber du wirst sehen, deine Intuition kommt schon wieder.«
Durant lächelte verkrampft, ging vor Hellmer ins Schlafzimmer und ließ noch einmal alles auf sich wirken, nahm die Eindrücke des Zimmers in sich auf.
»Zwei Gläser, eines davon unberührt, wie es scheint. Das heißt, sie kannte ihren Mörder. Wäre sie überfallen worden, würden wohl kaum zwei Gläser hier stehen. Und Champagner trinkt man auch nicht mit jedem. Was sagt uns das?«
»Ein guter Bekannter vielleicht?«
»Vielleicht. Aber einer, den auch die andern drei gekannt haben müssen. Einer, dem sie bedingungslos vertraut haben. Einer, bei dem sie niemals vermutet hätten, dass er zu einer solchen Tat fähig wäre. Was für eine Person kommt da in Frage?«
»Ich bin kein Seelendoktor und auch kein Profiler. Wir solltenjetzt übrigens dringend einen einschalten. Wir brauchen ein Täterprofil.«
»Ja, sicher«, sagte Durant, in Gedanken versunken. Sie ging ins Wohnzimmer, sah sich um, stellte sich ans Fenster und blickte hinunter auf einen Hinterhof, an den weitere Häuser grenzten. Sie dachte nach, schaffte es aber nicht, ihre Gedanken zu ordnen. Es war wie eine Blockade, sie hatte die Bilder der anderen Toten vor Augen, versuchte einen Zusammenhang herzustellen, es gelang ihr nicht. Sie trat zu dem Schrank, zog vorsichtig eine Schublade nach der andern heraus, aber außer Kerzen und einigen Deckchen befand sich nichts darin. Ein paar hochwertige Gläser, Teller, Tassen und einige Bücher standen im Regal.
Es klingelte, die Kollegen von der Spurensicherung, der Fotograf und Professor Morbs von der Rechtsmedizin trafen kurz nacheinander ein. Morbs, der große Boss der Rechtsmedizin, der Fachmann, die Autorität und Kapazität.
»Wieder das Gleiche?«, fragte er mit seiner typisch brummigen Stimme, und wie immer schien er etwas übel gelaunt. Hellmer nickte nur.
Der Fotograf betrat das Schlafzimmer, holte seine Videokamera heraus, filmte etwa fünf Minuten lang den gesamten Raum. Anschließend machte er Fotos mit einer Spiegelreflexkamera, danach noch einige Polaroidbilder. Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, nahm Morbs seine Tasche und ging ins Zimmer. Durant und Hellmer folgten ihm. Hellmer hatte seine Hände halb in der Jeans stecken, die Kommissarin lehnte am Schrank.
Morbs betrachtete sie einen Augenblick stumm. »Verdammt hübsches Ding. Selbst jetzt noch, wo sie tot ist.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich werde jetzt eine Leichenschau vornehmen.« Er zog sich Plastikhandschuhe über, entkleidete die tote Judith Kassner, bis sie nackt auf dem Bett lag. Er nahm das Diktiergerät in die Hand, sprach die ersten Eindrücke auf Band. Er maß die Temperatur, versuchte den Unterkiefer der Toten zu bewegen,was ihm nicht gelang. Er maß ihre Körpergröße, untersuchte ihre Arme, die Beine, ihre Brüste, drehte sie auf die Seite, nickte, ohne ein Wort zu sagen. Er spreizte ihre Beine, warf einen schnellen Blick auf die beiden Kommissare, bedeutete ihnen, näher zu
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