Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
gemacht hat, unsere Schriften zu zeigen? Von den wenigen weltlichen Herren, die klug genug sind, um lesen zu können, kommen ja auch immer wieder welche und verlangen das Archiv zu sehen.« Philipp zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, ich würde den Prior noch kennen, aber ich habe ihn noch nie gesehen. Was ist mit Bruder Aimar geschehen, dem damaligen Prior?«
»Er hat seinen Aufgaben entsagt und genießt jetzt die Kontemplation des hohen Alters in einem anderen Kloster.«
»Von den anderen Helfern des Abtes, die während der Messe vorne neben dem Altar stehen durften, kenne ich auch keinen mehr – außer dir. Welcher ist der Archivar?« »Bruder Pio hat die Messe nicht besucht.« Johannes machte ein verschlossenes Gesicht. »Wahrscheinlich hatte er zu tun. Er ist sehr fleißig.«
Johannes drehte sich um. Ohne Philipp zu fragen, ob er ihm folgen wolle, ging er in die nun leergewordene Kirche zurück, durch das Atrium hinaus und von dort durch eine Seitentür in das Vorratsgebäude. Im obersten seiner drei Stockwerke, direkt unter dem Dach, um die trockene Wärme zu nutzen, die dort die meiste Zeit des Jahres über herrschte, befand sich das Archiv. Während Philipp dem Kämmerer folgte, versuchte er sich darüber klarzuwerden, welches Motiv Johannes dazu trieb, sich über die Rangfolge im Kloster hinwegzusetzen und Philipp ohne weitere Nachfrage beim Prior in das Archiv mitzunehmen (es sei denn, er wollte ihn beeindrucken, was ihm zum Teil auch gelang). Es wurde ihm deutlich, als sie vor dem jungen Bruder standen, der dem Archivar bei seiner täglichen Arbeit half und der mit unsicherer Miene sagte, Bruder Piosei bereits vor dem Morgengrauen in einer wichtigen Angelegenheit weggeritten: Johannes haßte den Archivar. »Weggeritten?« echote er. »Was fällt ihm ein? Weshalb hat er mir nichts davon mitgeteilt?«
»Ich denke, er hat es dem Prior gesagt.«
»Dem Prior, dem Prior! Wenn er sich nach draußen in die Welt begibt, braucht er Geld, um etwas erstehen zu können, oder zumindest Vorräte. Für beides bin ich zuständig; er hätte sich bei mir melden müssen. Wann erwartest du ihn zurück?«
»Er hat gesagt, er käme nicht vor übermorgen zurück.«
»Dieser römische ... Mönch!« flüsterte Johannes unterdrückt. »Er will sich einfach nicht in die Ordensdisziplin einordnen!«
Der andere warf Philipp einen unsicheren Blick zu. Seine Tonsur war noch zerdrückt vom Schlaf, eine Seite flach an den Schädel gepreßt, die andere abstehend. Die Frage, ob Johannes Erlaubnis hatte, Philipp mit in das Archiv zu nehmen, stand klar auf seine Stirn geschrieben; ebenso klar stand dort die Angst vor dem Zorn des Kämmerers. Schließlich entschloß er sich dazu, dem unmittelbaren Druck nachzugeben.
»Kann ich dir helfen?« fragte er Johannes. »Ich kenne mich im Archiv ebenso gut aus wie Bruder Pio.«
Der Raum, den der Helfer des Archivars aufsperrte, roch nach Hitze, nach Holz und vor allem nach Leder und Pergament. Philipp schloß die Augen und sog den bekannten Geruch ein. Als Skribent hatte er die Kopierstube des Klosters kennengelernt, aber als junger Novize war er oft im Archiv gewesen. Die Jungen waren leicht genug, um auf die Regale zu klettern und das Stroh zu erneuern, das im Herbst zwischen die Dachsparren gestopft wurde, um dieWärme im Inneren des Raumes zu halten. Er öffnete die Augen wieder und erblickte die Regalreihen, die dicht an dicht in die Tiefe des Raumes führten.
»Wie werden die Abschriften der Heiratsdokumente aufbewahrt?« fragte Philipp.
»Nach dem Hochzeitsjahr und dem Namen des Mannes«, erwiderte der Helfer des Archivars.
Johannes schritt mit finsterer Miene an beiden vorbei und schlenderte tiefer in das Archiv hinein. Der Helfer des Archivars folgte ihm mit Blicken und war sich offensichtlich nicht schlüssig, ob er dem Kämmerer folgen oder bei Philipp bleiben sollte. Philipp nannte das Jahr – es war das Jahr, in dem der Zug ins Heilige Land begonnen hatte – und den Namen Radolfs.
»War der Mann ein Teilnehmer des Pilgerzugs?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Dann werden die Unterlagen bei all denen sein, die über die Pilgerfahrer gesondert aufbewahrt werden.« Der Helfer überlegte einen Moment, dann setzte er sich in Bewegung. »Kommt mit. Ich zeige Euch das Regal.« Über die Schulter versetzte er: »Die Pilgerfahrer konnten nichts dafür, daß sie von einem Ketzer angeführt wurden. Ihre Mission war edel. Sie waren von Gott auserwählt.«
Philipp folgte ihm in das
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