Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
geantwortet, aber er nahm an, daß es so war. Weshalb sonst hätte sie sich auf die gefährliche und mühsame Suche nach ihm begeben sollen. Plötzlich hatte er es eilig, Aude vor ihrer Rückreise auf das Gut noch einmal zu sehen und ihr eine gute Reise zu wünschen. Mit unguten Gefühlen dachte er an seine eigene, einsame Reise zu Radolfs Besitz. Lambert war Strauchdieben zum Opfer gefallen, und mit Thomas verhielt es sich wohl, entgegen seinen wilden Anschuldigungen, ebenso. Es war jener schreckliche Streit zwischen dem Kaiser und dem Papst, der die Ordnung derart verfallen ließ und immer roherer Gewalt Vorschub leistete. Der Vorfall nach der Rede des Propheten war nicht der Anfang davon gewesen, und die zunehmenden Übergriffe der Gesetzlosen nicht das Ende. Das Ende war vielleicht das Ende von allem, das Ende der Zeiten, das Ende der Menschheit, das Ende des Christentums, das Ende des Reichs – und das Ende Philipps. Er schüttelte diese Gedanken mühsam ab, aber sie hatten sich bereits mit den Toden von Lambert und Thomas verbunden, und es waren diese beiden Namen, die ihm am häufigsten durch den Kopf gingen, nachdem er endlich zu Radolfs Besitz hin aufgebrochen war.
Zwischenspiel
L ioba hatte es kommen sehen; aber wie immer hatte niemand auf sie gehört. Dabei war das Unglück dem neuen Mann ihrer Schwester Gertrud klar auf die Stirn gezeichnet gewesen, deutlich wie ein Feuerzeichen, das ihm der Satan selbst in die Haut gebrannt hatte – ein brandroter Striemen, der dort entstanden war, wo der Verleumder ihn berührt und gesagt hatte: Du bist mein.
Wenn man es nüchtern betrachtete, war es nichts weiter als eine Narbe, die von einem Schlag oder vom Tritt eines Pferdes herrühren konnte, aber Lioba war selten geneigt, die Dinge nüchtern zu betrachten. In dieser Hinsicht unterschied sie sich von ihrer Zwillingsschwester Renata, und wenn sie auf sonst nichts stolz war, dann doch auf diesen Unterschied. Sie hatte ihn fein herausgearbeitet, aus ihrem Charakter modelliert gewissermaßen, und sie hielt ihm jedem vor das Gesicht, der die Frechheit hatte zu behaupten, sie und Renata würden sich gleichen wie ein Ei dem anderen und sie besäßen zusammen wohl nur eine einzige Seele. Lioba war sich nicht ganz sicher, was der Besitz einer Seele genau zur Folge hatte, aber sie wußte exakt, was es bedeutete, wenn man keine hatte, und sie legte Wert darauf, sich und der Welt zu beweisen, daß sie eine Seele ganz allein für sich selbst besaß.
Sie war zehn Jahre alt, und seit der erste Mann ihrer großen Schwester (der im übrigen nur ein Auge besessen hatte – es ließ sich eine gewisse Gesetzmäßigkeit ausmachen,was Gertruds Ehemänner betraf) ihr kurz vor seinem Tod angedroht hatte, sie zu verloben und nach ihrer Mannbarkeit sofort zu verheiraten, und ihre Schwester nach dessen Tod die Drohung wiederholt hatte (ein wenig kleinlauter allerdings und mit dem sanften Hinweis, daß auch für Renata schon Bewerber vorgesprochen hätten und sie es sich nicht leisten könne, neben ihren Kindern auch noch ihre Schwestern zu füttern), hatte sie sich gerne romantischen Vorstellungen hingegeben, wie das Verheiratetsein wohl wäre.
Sie hatte vage Vorstellungen von Liebesliedern und heimlichen Fluchten durch blütenregnende Obstgärten gehegt, die auch von den nächtlichen Schauspielen nicht totzukriegen waren, die Ulrich Einaug und Gertrud zu bieten pflegten. Das fensterlose Haus mit seinem Rauchabzug im Dach war in der Nacht nicht dunkler als am Tag, doch wenn sich die Augen an die rauchige Finsternis gewöhnt hatten, konnte man deutlich erkennen, wie ihre Schwester ihren Kittel hochstreifte, ihre Beine öffnete und Ulrich sich auf sie wälzte, um seinen Schwanz? (so nannte er es, aber es war einmal groß und einmal klein, und Lioba hatte derlei Verhalten an den Schwänzen der Hunde und Ziegen noch nie gesehen) umständlich und mit viel Gegrunze in Gertrud zu schieben und danach zu stoßen anzufangen wie ein Hund, den man nicht rechtzeitig von der Hündin weggetreten hatte. Hören konnte man es sowieso. Lioba wußte auf ungenaue Weise, daß diese Aktionen etwas mit dem Verheiratetsein zu tun hatten und daß sich auch in den Hütten im Dorf hinter dem Wald nichts anderes abspielte, aber es mit ihr selbst in Verbindung zu bringen, schien ihr zu abwegig, deshalb ignorierte sie dieses Wissen und nährte süßere Vorstellungen von ihrer Zukunft mit einem Mann.
Es gab sogar ein paar Burschen im Dorf, die ihre Vorstellung von
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