Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
blutigen Finger saugend, kehrte er zurück.
»Wo ist der Strick?«
Er nahm das kürzere Ende und knotete die Distel hinein.
»Gib mir das Kleid.« Sie zuckte mit den Schultern und reichte es ihm samt Hemd. Er warf ihr das Hemd zurück. »Zieh es unter die Kutte«, sagte er. »Jetzt ist es schon egal. Die Wolle kratzt dann nicht so.«
Aude schlüpfte kurz entschlossen aus der Kutte und streifte sich das Hemd über, während Philipp das Kleid zu einem unordentlichen Bündel zusammenpackte. Sie seufzte erleichtert, als sie den kühlen Stoff spürte. Philipp umwickelte das Kleid nachlässig mit dem Strick und knotete ein Ende davon fest um den Sattel des Maultieres. Dann nahm er den kürzeren Strick mit der Distel und stieg wieder in den Sattel seines Pferdes.
»Bevor wir an die Wegkreuzung nach Köln kommen, erreichen wir einen kleinen Bach«, sagte er. »Dort lassen wir das Maultier frei. Es wird nach Hause laufen. Wir selbst nehmen beide mein Pferd und reiten in dem Bach in die andere Richtung. Dann können sie unsere Spuren nicht sehen.«
Aude nickte und kletterte wieder auf das Maultier. Sie hielt ihr Kleid vor sich auf dem Sattel fest und folgte dem hastigen Trab, den Philipps Pferd anschlug. Sie war froh, als sie den Bach erreichten.
»Warte hier«, sagte Philipp. Sie sprang ab. Philipp nahm die Zügel des Maultiers und ritt mit ihm weiter. Sie setzte sich neben der Straße auf den Boden und hielt die Beine ins Wasser des Baches.
Das kühle Wasser prickelte und schmerzte an den aufgeriebenen Stellen. Nach Philipps Weggang war es still. Sie konnte das Gluckern des Baches und die Vögel hören. Sie lauschte, aber noch waren keine Verfolger zu hören. Galbert kam ihr in den Sinn, und ohne daß sie es wollte, stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie weinte, ohne zu wissen, ob sie um den Knecht oder um den Schmerz in Philipps Augen weinte oder weil sie wußte, daß die Vorwürfe, die Philipp sich machte, die gleichen waren, die sie sich selbst wegen Geoffrois Tod machte. Als sie die Hufe von Philipps Pferd hörte, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Philipp sprengte auf sie zu und streckte die Hand aus, ohne abzusteigen.
»Komm. Das Pferd trägt uns beide ohne Probleme«, sagte er.
»Bist du sicher, daß das Maultier nicht nach ein paar Meilen anhält?«
»Ziemlich sicher.« Philipp nickte grimmig. »Ich habe ihm die Distel an den Schwanz gebunden.« Aude verzog das Gesicht.
»Wo ist mein Kleid?«
»Das wird über kurz oder lang von dem Maultier herunterfallen; ich hoffe, genau dann, wenn die Kerle sich zu fragen beginnen, ob wir wirklich in Richtung Köln geritten sind.«
»Und wohin reiten wir tatsächlich?«
»Dorthin, wo uns niemand vermuten würde und wo der einzige Platz ist, an dem uns mein Herr finden kann. Radolfs Haus.«
Dunkelheit fiel, lange bevor sie das verlassene Dorf erreichten, aber sie hielten nicht an. Die Gefahren dernächtlichen Reise schienen lächerlich im Vergleich zu ihrer Flucht vor den Männern unter den Eichen; und tatsächlich, als wollte der Wald ihnen dabei zustimmen, war ein über den Weg huschendes Wiesel das Gefährlichste, was ihnen begegnete. Das Pferd stapfte schwer mit seiner doppelten Last und war zu nichts schnellerem als einem leichten Trab zu bewegen, was Philipp, der hinter dem Sattel auf dem Rücken des Tieres saß, bald zu schätzen wußte. Sie sprachen kaum miteinander. Aude schwieg aus Erschöpfung, Philipp aus Furcht, das zarte Band, das ihre gemeinsame Flucht über die Kluft zwischen ihnen gewoben hatte, mit unbedachten Worten wieder zu zerreißen. Neben dieser Furcht verspürte er eine immense Wut darauf, daß er Galbert zurückgelassen hatte. Er hatte auch Johannes zurückgelassen, aber der Kämmerer machte den Eindruck, daß er sich selbst schützen konnte. Galbert hingegen ... und dann: Bastulf. Sie hatten ihm die Bestie abgenommen, offensichtlich im Wissen, daß sie Ernst gehört hatte. Woher sie dieses Wissen bezogen, war ihm schleierhaft. Was hatten sie mit Bastulf angestellt, nachdem er das Pferd hatte herausgeben müssen? Und was ist Dionisia geschehen? fragte er sich gleich danach. Seine einzige Hoffnung gründete sich darauf, daß sie innerhalb der Klostermauern geschützt war. Was allerdings passiert sein mochte, falls die Männer sie aus dem Kloster verschleppt hatten, daran wagte er kaum zu denken und noch weniger daran, was es in diesem Fall bedeuten mochte, daß Dionisia bei den Eichen nicht mehr bei ihnen gewesen war.
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