Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
sich offensichtlich dem Wein ergeben, aber er besaß Würde. Es war etwas, was ihn über die übrigen Plappermäuler, Windbeutel und Schöntuer stellte, die sich einem anbiederten. Man hatte das Gefühl, daß eseine Auszeichnung war, wenn er einem vertraute; und es schien, als vertraue er Philipp.
Immerhin hast du seinen Wein bezahlt und ihm zuletzt auch noch zu einer Schlafstätte verholfen , dachte Philipp sarkastisch, aber er wußte selbst, daß sein Sarkasmus nicht zutraf. Minstrel hatte seine Hilfe nicht erbeten und nicht mit ihr gerechnet. Genausowenig wie um Hilfe buhlte er um Philipps Freundschaft.
Freundschaft ist nichts weiter als eine zusätzliche Verbindlichkeit, dachte Philipp schließlich, schon an der Schwelle zum Schlaf, ein Akt, mit dem man sich an den erwählten Führer einer Gruppe oder an deren Mitglieder bindet. Es mochte an dem Gefühl liegen, das sein Aufenthalt in diesem exklusiven Raum in der Herberge jedesmal wieder in ihm wachrief. Seine Zeit im Kloster stand ihm deutlicher vor Augen als sonst, und er erinnerte sich dunkel an ein Erlebnis mit anderen Novizen, an deren Gunst ihm damals gelegen war. Es hieß, man müsse einen Akt ähnlich der commendatio vollführen, um in ihren Zirkel aufgenommen zu werden. Der Akt bestand darin, während der Nachtruhe leise aus dem Schlafsaal der Novizen zu schleichen und sich in der Latrine zu treffen, wo von ihm verlangt wurde, das Novizengewand zu lüften und sein Geschlechtsteil zu präsentieren. Es war ein langer Weg, den er hinter den beiden Knaben herschlich; das Licht brannte die ganze Nacht im dormitorium und raubte ihnen den Schutz der Dunkelheit, und sie mußten an dem Mönch vorbei, der in der Mitte des Schlafsaales lag und auf die Novizen zu achten hatte. Der Wächter schlief den Schlaf des Gerechten, doch kaum waren sie an ihm vorbei, stieg die Angst vor der von ihm erwarteten Tat, als sie sich der Latrine näherten und endlich in ihrer hintersten Ecke Aufstellung nahmen. Ererinnerte sich an sein unerträglich klopfendes Herz und an den Schock, den er fühlte, als er sich seiner Erregung bewußt wurde. Sein Glied füllte sich plötzlich schmerzhaft mit Blut, und er präsentierte es (nachdem er mit Zögern und Zaudern und vollkommen vergeblich versucht hatte, das Abklingen der Erregung abzuwarten) schaudernd und nahezu ohnmächtig vor Scham und Aufregung. Einen Moment lang nur, einen kurzen Augenblick, bevor die Scham übermächtig wurde und er das Vorderteil des Gewandes mit beiden Händen krampfhaft nach unten zog. Sie konnten ihn nicht dazu überreden, sich noch einmal zu zeigen. Der Akt, die commendatio , war nur zum Teil erfüllt, und ebenfalls nur zum Teil erfüllte sich die Freundschaft, an der ihm schon nichts mehr gelegen war, Sekunden bevor er das Gewand aufgehoben hatte.
Philipp schlief ein. Er träumte; aber anstatt von jenem Erlebnis zu träumen, erschien ihm die Truhe, von der der Sänger gesprochen hatte. Er trat hinzu und sah, daß das Schloß der Truhe bereits geöffnet war; der Deckel sprang auf, und er sah einen Rattenkönig in der Truhe hocken, die vielfach verschlungenen und verknäuelten Schwänze wie ein zuckendes Nest fleischfarbener Schlangen. Dutzende von schwarzen Augenpaaren funkelten ihn an, und die Tiere öffneten die Mäuler und sagten mit der Stimme des Propheten: »Wir sind die Herren der Hinterlist.«
Am nächsten Morgen waren die Erinnerungen an seine Klosterzeit ebenso wie der Traum verblaßt.
Als Philipp sich anzog und dabei mißmutig an seine bevorstehende Arbeit bei Radolf Vacillarius dachte, hörte er Schritte, die sich seinem Geviert näherten, und gleich darauf ein Räuspern. Die Decke wurde beiseite gezogen, und Minstrel tratin den Raum. Er wirkte nicht blasser als gestern während des Tages; nur seine tiefliegenden Augen zeigten, daß ihm der Alkohol zu schaffen machte. Er war so nüchtern, wie ein Mann am frühen Morgen nur sein konnte. »Ich fürchte, ich habe mich gestern abend Euch gegenüber nicht besonders aufmerksam benommen«, sagte er.
»Der Wein hatte Euch überwältigt. Ihr seid eingeschlafen.« »Aufgewacht bin ich in dem Zimmer oberhalb der Gaststube, in dem der Wirt mit seiner Familie schlief.«
»Er hatte dort ein Bett frei, und ich habe ihn gebeten, es Euch zu geben.«
»Ich nehme an, ihr habt Eure Bitte mit genügend Pfennigen untermauert.«
Philipp zuckte mit den Schultern.
»Sein Haus ist eine eingetragene Herberge, und er hat das Recht, dieses Bett zu vermieten.
Weitere Kostenlose Bücher