Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Gutgläubigkeit erfüllt, traf eine kleine Gruppe Reisender vor der Ehrenpforte ein: ein fränkischer Geistlicher, in dessen Begleitung sich drei Frauen befanden, von denen wiederum eine die Kopfbedeckung und den Schleier einer verheirateten Frau trug, während die beiden anderen sichtlich ihre Mägde waren. Die Torwachen ließen sie ohne großes Aufheben passieren. Sie konnten nicht viel Schaden anrichten; wahrscheinlich waren sie ohnehin nur in der Stadt, um die Reliquien zu bewundern, bevor die Pilgersaison in vollem Schwange war. Die Frau sah vornehm gekleidet genug aus, um sich die Reise noch vor allen regulären Pilgern leisten zu können. Als sie ihnen das Gesicht zuwandte und lächelnd mit einem fränkischen Akzent dankte, waren sie erstaunt, daß sie es riskiert hatte, mit dieser kleinen, nutzlosen Eskorte bis hierher zu reisen. Sie war von einer selbstbewußt wirkenden Schönheit, soviel unter der Haube mit dem breiten Kinnschleier zu sehen war, und das Haar, das in ihren Nacken fiel, glänzte im abendlichen Sonnenlicht mit einem überwältigenden Herbstrot. Die Torwachen waren sich einig, daß es töricht von einer Frau ihres Aussehens war, so unbewacht zu reisen; ihr Gesicht allein hätte jedem Wegelagerer das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, ungeachtet aller möglichen Reichtümer, die bei ihr zu holen sein konnten. Die Torwachen sahen ihr kopfschüttelnd nach und hingen kurzfristig eigenen Gedanken nach, in denen die Frau, eine einsame Straße und sie selbst in der Gestalt eines rauhbeinigen, zu allem entschlossenen Wegelagerers eine Rollespielten. Natürlich konnten sie nicht wissen, daß Aude Cantat, deren Reichtum sich gerade soweit erstreckte, daß sie die zwei alten Frauen und den Kaplan als ihre Reisebegleiter entlohnen konnte, erst ein paar Meilen vor der Stadt die Männerkleidung ausgezogen hatte, in der sie (zur Mißbilligung des Kaplans, der sich jedoch nicht hatte durchsetzen können) die restliche Reise getan hatte – dem Aussehen nach ein zierlicher junger Mann mit einem Geistlichen und zwei alten Weibern als Gefährten, die zu überfallen sich für keinen Wegelagerer lohnte.
Zwischenspiel
D er Tag war schlimmer als die Nacht.
Agnes war sicher gewesen, die Nacht nicht zu überleben. Aber sie war auch sicher gewesen, den kurzen Prozeß, die Urteilsverkündung und ihre Fesselung an den Schandpflock nicht zu überleben; und danach atmete sie noch immer. Tatsächlich hatte die Nacht etwas Tröstliches. Die Hitze des Tages ging mit der Sonne und mit ihr das grelle Licht, das sie in ihrer Hilflosigkeit und Schande dem Auge des Herrn preisgab. In der Dunkelheit schienen die Häuser näher an sie heranzurücken, ihre kompakten Schatten wie Leiber von freundlichen Tieren, die sich um sie scharten. Gewiß, es gab die Stimmen der wilden Bestien, die sich nachts in den Wäldern tummelten oder über die Felder der Menschen liefen. Der grelle Todesschrei eines kleinen Lebewesens, das seinem Verfolger ausgeliefert war, klang nicht weniger erschreckend als das blutdürstige Heulen des Jägers, der seine Beute in seinen Tatzen weiß. Einmal schwang sich ein Nachtvogel scheinbar direkt über ihr aus der Luft, in einem Sekundenbruchteil ein finsterer Umriß vor dem Sternenhintergrund des Himmels, im nächsten ein Rauschen und Knattern von Federn und das schmerzhafte Fiepen einer Maus, in deren Leib sich die erbarmungslosen Fänge bohrten. Sie wollte schreien. Ihre Zunge zuckte, aber die Klammern hielten sie fest und trieben scharfe Nadeln der Pein in sie, und es wurde nicht mehr als ein abgehacktes Keuchen daraus.
Der Tod der Maus spielte sich direkt vor ihren Füßen ab, und sie wußte, daß der Teufel in jenem Nachtvogel war, denn wie hätte das Tier sonst die kleine Maus sehen können, die sich unmittelbar vor ihr befand und die sie selbst doch nicht gesehen hatte. Das Fiepen brach unvermittelt ab, und der Vogel erhob sich in einem Wirbel aus Federn und Staub wieder; er war niemals richtig auf der Erde gelandet. Agnes umklammerte die Kette, die ihre Hände an den Pflock fesselte, ihr Herzschlag rasend; es war ihr fast übel vor Schreck. Es gab all diese Vorkommnisse, und trotzdem hatte die Nacht etwas Tröstliches. Zum einen gelang es ihr, trotz der unbequemen Stellung, zu der sie gezwungen war, mit dem Rücken an den Schandpflock gelehnt, immer wieder einzunicken, so daß es Zeiten gab, in denen ihr Bewußtsein nicht ständig mit dem Schmerz und der Scham kämpfte. Zum anderen, und das war das
Weitere Kostenlose Bücher