Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
eigenen Gedanken nachhing. »Sie verbreiten ihre Lügen wie eine Krankheit.«
»Sprecht Ihr jetzt vom Propheten? Diese Gestalten erscheinen immer einmal wieder. Man darf sie nicht ernst nehmen.«
»Der Prophet«, sagte Minstrel, ohne auf seine Worte zu achten. »Die Büttel. Die Fürsten. Die Päpste und die Kaiser. Sie sind alle gleich.« Er packte seinen Becher und leerte ihn mit einem Zug. Das leichte Lächeln hatte jetzt einem Ausdruck der Bitterkeit Platz gemacht, und mit diesem Gesichtsausdruck und seinem hastigen Trinken wirkte er plötzlich nicht mehr leicht beschwipst, sondern wie jemand, der versucht, etwas zu ertränken und dabei immer betrunkener, aber keineswegs weniger bitter wird. Minstrel schien darüber nachzudenken, in welche Worte er seine Gedanken kleiden sollte und vor allem, wie viele davon preiszugeben ratsam war; Philipp konnte es an der Falte zwischen seinen Brauen erkennen, und er erkannte auch, daß der Drang, sich zu äußern, in Minstrel stärker war als seine Unschlüssigkeit. Der Sänger war kein verschlossener Mann. Philipp beobachtete ihn erwartungsvoll.
»Euch muß doch klar sein, daß jene Pilger im Auftrag des Heiligen Vaters den Propheten nicht deshalb am Reden hindern wollten, um den Zuhörern seinen Mundgeruch zu ersparen«, sagte Minstrel.
»Weshalb dann?«
»Es war eine Hetzpredigt gegen den Kaiser. Der Papst hat die Losung ausgegeben, daß jeder, der einer derartigen Tirade zuhört, fünfzig Tage Fegefeuer erlassen bekommt. Seitdem laufen die Pfaffen in ihrer Selbstlosigkeit herum und hetzen, damit ihren Schäfchen ein paar Tage der himmlischen Rachsucht erspart bleiben. Und weil an manchen Orten die Hunde, die die Schäfchen bewachen, darüber wütend werden, müssen sie vorsichtig formulieren.« »Ich habe das nicht als Hetzpredigt erkannt.«
»Weil man den Mann zu früh aufgehalten hat. SeineFreunde hätten den Propheten weggeführt, und er hätte an seiner Stelle weiter gepredigt. Die Kaiserlichen sind ihm dazwischengekommen. Nun, sie haben ja ihren Lohn dafür erhalten, stimmt’s?« Minstrel verzog den Mund und lächelte bitter. »Wie habt Ihr die Voraussage des Propheten empfunden?« fragte er dann.
»Blutrünstig. Den Leuten schienen die Details zu gefallen.«
»Er sieht eine Zeit heraufziehen, die von solchen Details voll sein wird. Ich weiß nicht, ob er wirklich Gesichte hat oder nur eins und eins zusammengezählt hat und über dem Ergebnis vor Schreck verrückt geworden ist. Tatsache ist, daß wir uns auf etwas zubewegen, was nicht weniger schlimm sein wird als alles, was er erzählt hat; wie ein Schiff, das auf einen Mahlstrom zugerissen wird. Und unser Schiff hat nicht einmal einen Steuermann; oder besser gesagt, es hat zwei, die sich nicht einig sind, was auf das gleiche herauskommt. Wenn wir als Passagiere wüßten, welcher von beiden der Gute und welcher der Schlechte ist, könnten wir den Schlechten über Bord werfen, aber wir wissen es nicht, oder? Wer, glaubt Ihr, ist das Tier mit den sieben Köpfen, von dem der Prophet gesprochen hat? Das ist das alte Rom, erbaut auf sieben Hügeln. Sie sagen, der Kaiser habe die Verderbtheit des alten Rom geerbt, ein neuer Imperator Nero, dessen Wiederkunft sie seit fünfhundert Generationen fürchten.« Minstrel lachte. »Dabei haben sie vergessen, daß sie selbst jetzt Rom verkörpern. Wer weiß, ob das Tier nicht schon längst auf einem purpurnen Thron sitzt? Nur, daß dieser in der Engelsburg steht.«
Philipp sagte mit bemühtem Lächeln: »Eure Rede läßt mir zwar die Hosen erzittern, aber verstehen kann ich sie nicht.«
Minstrel seufzte. Inzwischen hatte der Wirt, von Philipps ausbleibendem Widerstand motiviert, einen vollen Weinkrug auf den Tisch gestellt, und Minstrel hatte sich zum wiederholten Male nachgeschenkt. Er war nun ziemlich betrunken; in jenem Stadium, das einem Beobachter fast wieder klar erscheint. Was jedoch noch immer durchhielt, war seine Stimme, der nichts anzumerken war.
»Der Papst hat nicht nur verfügt, daß jeder, der einer Hetzpredigt zuhört, in der Gnade Gottes ist und seine zukünftigen Höllenstrafen verringert«, erklärte Minstrel. »Wer gar das Schwert gegen den Kaiser erhebt, kann eines vollen Ablasses gewiß sein.«
»Warum unternimmt der Kaiser nichts dagegen?« fragte Philipp.
»Vielleicht mißt er diesen Reden keine große Bedeutung bei.«
»Aber die Priester sind es doch, die den Willen des Volkes steuern. Wenn sie es gegen den Kaiser aufhetzen, wie kann er dem
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