Der Jahrtausendkaiser: Der Jahrtausendkaiser
Wichtigere, wußte sie, daß Menschen um sie herum waren, daß ihre Nachbarn, ihre Leidensgenossen, ihre Familie in den Häusern um sie herum schliefen. Sie hörte sie nicht, sie sah bis auf die kurze Zeit, in der sie von den Feldern zurückgekommen waren und aßen, keinerlei Lichtschein, aber sie wußte, daß sie da waren, und dieser Umstand tröstete sie. Sie empfand diesen Trost nicht als merkwürdig, obwohl ihr vollkommen klar war, daß das Dorf sich gegen sie gewandt hatte. Es reichte aus, daß Menschen in ihrer Nähe waren; sie fühlte sich sogar wieder wie ein Teil der Gemeinschaft, die sie so sichtbar ausgestoßen hatte.
Es war ihr klar, daß sie etwas getan hatte, was den Herrn und seine Gläubigen zutiefst erzürnt hatte; aber es war ihr nur klar, weil man es ihr gesagt hatte. Wenn man jedoch näher darüber nachdachte, schien es immer weniger klarzu werden, und man gelangte an einen Punkt, an dem als einziger Schluß blieb, daß man eigentlich gar nichts getan hatte. Da aber ein unschuldiger Mensch nicht vom Priester und den Ältesten verurteilt würde, mußte sie doch etwas getan haben. An diesem Punkt begann die Gedankenkette zumeist von neuem, wenn sie nicht durch ein äußeres Ereignis wie den Tod der Maus vor ihren Füßen, den Steinwurf eines Kindes oder den Guß aus dem Wassereimer, den der Priester ihr gegen den Durst verabreichte, unterbrochen wurde.
Dies war geschehen: Es gab einen Händler, der in unregelmäßigen Abständen durch das Dorf kam. Er war ein fröhlicher Mann, klein und dicklich, dem man nicht zutraute, daß er die Strapazen des Händlerlebens auf sich nahm; er selbst jedoch genoß es und verstand es, sich dort Erleichterungen zu verschaffen, wo es ihm möglich war. So trug er stets einen dicken Pilgermantel, der ihm die Hitze und die Kälte gleichermaßen vom Leib zu halten vermochte, eine lederne Haube, über die sich ein flacher Kranz aus geflochtenem Stroh gegen die Sonne stülpen ließ, weiche, herrlich eingefettete Stiefel aus Kalbsleder, die seine Füße auf jedem seiner Schritte geradezu umschmeichelten, und einen Ziegenlederschlauch mit Wein, aus dem er sich bediente, wenn ihm die Reise zu einsam wurde. Die Dorfbewohner hatten sich an ihn gewöhnt und pflegten ihm auf seinen Wegen zur und von der Stadt einen zusätzlichen Verdienst zu bescheren. Der Händler war nicht dumm; er verlangte anständige Preise und hatte anständige Ware dafür zu bieten, und da er wußte, wie selten die Bauern Geld in die Hand bekamen, war er im Gegensatz zu den meisten seiner Zunftgenossen auch nicht abgeneigt, Speckschwarten oder Brot als Bezahlung zu nehmen. Er hatte wache Augen und erkannte während seines Aufenthalts auf dem Hinweg zur Stadt, was die Dörfler benötigten und was er folglich auf dem Rückweg feilbieten müßte. Was ihn jedoch in den Augen der Dörfler am unentbehrlichsten machte, war sein unerschöpflicher Vorrat an Neuigkeiten: aus der Stadt, aus den benachbarten Grafschaften, aus den Herzogtümern. Er ging freizügig mit seinen Geschichten um und erzählte sie mit lauter Stimme, während er mitten auf der Straße seine Waren feilbot, die ein Esel in zwei Tragkörben durch die Welt schleppte. Wenn es zuwenig Neuigkeiten gab, begann er wieder von vorne zu erzählen, wenn er am Ende angelangt war, und wenn es überhaupt keine Neuigkeiten gab, erfand er welche. Die Bauern nahmen die Wiederholungen wie die Erfindungen mit der gleichen ruhigen Neugier hin, mit dem Bewußtsein, daß ohnehin nichts von Belang war, das sich außerhalb ihres Dorfes abspielte. Er war ein verläßlicher Bote und Transporteur von Nachrichten wie Gütern gleichermaßen, ein Mann mit seinem Esel, der in kurzer Zeit zu einem festen Bestandteil des dörflichen Lebens geworden war, obwohl niemand auch nur seinen Namen kannte. Ein Abgesandter und Dämon des Satans, der das Gift der Ketzerei in die Ohren der Unschuldigen streute, wenn es nach dem neuen Priester ging.
Agnes konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es gekommen war, daß sie vollkommen allein auf den Händler gestoßen war. Es mochte sein, daß sie vom Feld ins Dorf zurückgelaufen war, um Wasser aus dem Brunnen zu holen, oder es hatte sich jemand verletzt, und sie suchte nach den passenden Kräutern hinter ihrem Haus: Wie es auch immer war, sie lief ins Dorf und sah den Händler mit seinem Esel unschlüssig im Dorf stehen und sich am Kopfe kratzen.
»Du bist zu spät«, keuchte sie und blieb vor ihm stehen. »Es sind alle auf dem Feld. Du
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