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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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mir klar, daß ich nichts anderes im Leben tun würde, als durch die Welt zu gehen, um sie zu erforschen. Von Feuerland bis Kamtschatka, von Spitzbergen bis zur Antarktis wollte ich reisen, auf die höchsten Gipfel steigen, in die Tiefe der Meere tauchen, Wüsten durchqueren und durchs ewige Eis ziehen. Das war keine Idee, die langsam wuchs, sondern sie war bereits da, als mein Bewußtsein erwachte. Es kann kaum sein, daß mein Wandertrieb eine Reaktion auf die damals in meinem Land verordnete Bewegungsunfreiheit war. Vielmehr dürfte es sich schlicht um eine Flucht vor den Realitäten des Lebens gehandelt haben. Sich den Anforderungen des Alltags zu stellen, mit seinen ständig gleichen Abläufen, war für mich als Kind nur schwer zu ertragen: aufstehen, sich waschen, anziehen, essen, trinken, zur Schule gehen, Hausaufgaben machen und dann wieder zu Bett gehen. Verständlich, daß ich schon als Zehnjährige begann, von Katastrophen zu träumen, die diese Ordnung zerstören würden. Ich versteckte mich auf dem Dachboden oder im Keller und las ein Buch nach dem anderen. Für mich war das Gelesene realer als die Gegenwart. Verzweifelt versuchte ich, dem Gleichlauf des Alltags zu entkommen. Die häufigsten Fluchtversuche unternahm ich mit dem Essen: Ich wollte unabhängig von einer regelmäßigen Nahrungsaufnahme sein. Manchmal aß ich viele Tage gar nichts, um zu sehen, wie lange ich hungern könnte. Dann wieder stopfte ich, soviel mein Magen fassen konnte, in mich hinein. Ein andermal versuchte ich, mich nur von einer Sorte Nahrungsmittel zu ernähren. Wochenlang verzehrte ich dann nichts anderes als Haferflocken. Ich nannte das »Expeditionstraining« und stellte mir vor, ich hätte mich im Urwald verirrt und die Notration sei aufgebraucht. Aus dem Abfalleimer holte ich Weggeworfenes und auf dem Schulhof durchstöberte ich die Papierkörbe nach Eßbarem, hob sogar angebissene Brötchen von der Straße auf. Nur diese Fundstücke erlaubte ich mir zu essen, denn auch im Urwald würde ja hin und wieder etwas Eßbares zu finden sein. Irgendwann war die Expedition beendet, ich fand zur Zivilisation zurück. Welche Freude, alles, was ich rigoros von mir gewiesen hatte, durfte ich nun wieder verzehren. Der Genuß war unvergleichlich. Ich entdeckte, wie beglückend es ist, einige Zeit auf selbstverständliche Dinge zu verzichten. Herrlich, dieser erste Biß in ein frisches Marmeladenbrötchen, und sogar mit Butter! Wie hatte ich mich in der Hungerszeit nach einem weichgekochten Ei gesehnt! Mit größtem Vergnügen klopfte ich nun mit dem Löffelchen auf das Ei, pellte langsam die Schale ab, das Eiweiß glänzte matt, und dann endlich schmeckte ich das gelbe, halbflüssige Eigelb auf dem Löffel, genüßlich schluckte ich es hinunter. Diese Tage der Rückkehr waren die glücklichsten in meiner Kindheit. Sie waren hell und licht, von Freude durchstrahlt. Ich war erfüllt von Liebe und Zuneigung für meine Umwelt. Mit frohen Augen tanzte ich durch die Wohnung, war friedfertig gegenüber den Geschwistern, half der Mutter und nahm am Familienleben teil. Doch dieses Glück dauerte nicht lange, bald waren das Marmeladenbrötchen und das Frühstücksei wieder zur Gewohnheit geworden, und niemand wunderte sich mehr über mein vorbildliches Verhalten. Dann wurde ich wieder unwillig und mürrisch, verkroch mich in Winkel und Ecken und fand alles grau, langweilig und verachtenswert. Dann war für mich wieder der Zeitpunkt für ein neues Training gekommen. Ich probierte, wie lange ich es ohne zu trinken aushalten kann. Manchmal versagte meine Stimme, und ich konnte kaum noch sprechen, so trocken war meine Kehle. Meine Eltern waren inzwischen an manche meiner Eigenartigkeiten gewöhnt. Nur einmal, als mich meine Mutter eines Nachts beinahe erfroren auf dem Balkon fand, verlor sie restlos die Geduld. Ich spürte die Kälte bereits nicht mehr. Schnee lag schon auf mir, als sie mich zufällig entdeckte. Sie legte meinen zusammengekrümmten, steifen Körper in heißes Badewannenwasser und rief verzweifelt: »Jetzt ist es genug! Ich mache das nicht mehr mit!« Kläglich hob ich den Kopf über den Rand der Badewanne und bat: »Nicht böse sein, ich wollte doch nur für die Antarktis trainieren.«
    Es hat aufgehört zu regnen. Die Farben der Landschaft werden klar und intensiv. Variationen in Grün, getüpfelt vom Gelb des Ackersenfes und geflammt von Mohn. Ich freue mich, ein Schloß zu besitzen. Daß es nicht mehr bewohnbar und zerfallen ist,

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