Der Jakobsweg
Silhouetten von Ortschaften hoch oben auf den Hügeln. Gekrönt mit romanischen Kirchen ähneln die Dörfer aus der Entfernung einer Festung.
Das Dorf Guendulain dagegen liegt im Tal. Es ist grau und ärmlich. Vielleicht ist es wegen des Regens, daß ich auch hier keine Menschen sehe, nur die Hunde toben wieder. Ich steige auf den nahe gelegenen kleinen Berg. Dort befindet sich eine Kirche und das Schloß der früheren Barone von Guendulain, nach denen der Ort benannt ist. Die romanische Kirche ist noch verfallener als die bei Cizur Menor. Die Tür hängt lose in den rostigen Scharnieren. Sehr vorsichtig trete ich ein. An den Wänden sehe ich nur noch blasse Schatten der einstigen Malereien. Durch den Dachstuhl tropft Wasser. Ein Seitenflügel ist zusammengebrochen. Steinschutt türmt sich auf dem Boden. Kein Altar, kein Kirchengestühl ist mehr vorhanden. Doch gerade durch die mitleiderregende Zerstörung scheint mir diese Kirche einem Lebewesen nicht unähnlich zu sein. Einst war sie schön und jung, jetzt ist sie alt und zerbröckelt langsam, doch trotz des Verfalls ist noch ihre frühere Schönheit zu ahnen. Die kleine Kirche führt mir deutlich die Gesetze von Werden und Vergehen vor Augen.
Ich gehe hinüber zum Schloß und sehe auch hier den Verfall. Durch einen hohen Torbogen gelange ich in das Innere der Ruine. Mir scheint, die zwei Stockwerke haben Wind und Regen bis jetzt widerstanden. Zuerst inspiziere ich das Erdgeschoß. Leere Räume, Fenster und Türen fehlen, der Boden ist stellenweise mit Bruchsteinen und Ziegeln bedeckt. Das Gebäude umschließt einen Patio in der Mitte. Pflanzen haben vom Innenhof Besitz ergriffen. Holunderbüsche, Brennesseln, Vogelbeerbäume und Birken füllen ihn ganz aus. Eine intakte Steintreppe führt in das oberste Stockwerk. Auch hier sind die Zimmer leer und kahl. Der Steinboden ist sauber, als hätte jemand erst kürzlich gefegt. Ein Raum gefällt mir besonders. Er ist kleiner als die anderen und schließt sich als letzter einer Zimmerflucht an. Steinerne Sitze vor den Fensteröffnungen laden zum Ausruhen ein, und ich setze mich. Das Fenster reicht mir bis zur Taille. Bequem kann ich hinausschauen und habe schnell das Gefühl, eine Bewohnerin des Schlosses zu sein. In Gedanken statte ich mein Zimmer mit Möbeln, Teppichen und Bildern aus, schmücke es mit Blumen und denke mir aus, wie ich hier wohl gelebt haben könnte.
Heute bin ich zwar erst drei Stunden gewandert, aber ich beschließe, bis morgen zu bleiben, denn es ist sehr verführerisch, einmal für sich allein ein Schloß zu besitzen, und wenn auch nur für einen Tag oder eine Nacht. Unter dem Fenster verströmen weiße Blütendolden der Holunderbüsche einen berauschenden Duft. Regen, Nebel und Wolken verschleiern die umliegenden Felder und Hügel, geben ausschnittweise die Landschaft frei und verdecken sie bald wieder. Eine Stimmung zum Träumen. Wer wird vor mir hier gewesen sein? Frauen, immer waren es Frauen, die aus dem Fenster schauten und warteten. Sie warteten und wußten nicht, worauf; daß ein Mann zu ihnen kommt und dann das Leben endlich beginnt. Und so vergingen die Tage und vielleicht ein ganzes Leben. Es hat etwas Passives, Duldendes, am Fenster zu sitzen. Für ihr Unglück konnten die Frauen die ganze Welt verantwortlich machen, nur nicht sich selbst, denn sie saßen an ihrem Fensterplatz und warteten, aber es kam meist nicht, das Glück. Einige aber sind schon immer ausgebrochen und haben ihren Weg gesucht. Ihr Mut, ihre Leiden, ihre Kämpfe und Opfer haben mitbewirkt, daß es für mich heute selbstverständlich ist, meinen eigenen Weg zu gehen. Trotzdem habe ich mich als Kind nie an Frauenvorbildern orientiert. Frauen hatten noch nicht lange genug Gelegenheit gehabt, sich zu verwirklichen. Ihr Bild sah immer noch blaß aus im Vergleich zu Männern. Überhaupt galt mir die Realität des Alltags wenig. Als Kind bewunderte ich nur diejenigen, die sich im Dschungel halbverhungert mit der Machete vorwärts kämpften, Wüsten durchquerten und dabei verdurstend einer Fata Morgana entgegentaumelten, die sturmumtoste Berggipfel bestiegen, von Schneelawinen verschüttet wurden, von Haien verfolgt in die finstere Tiefsee tauchten, in die rotglühenden Kraterschlünde der Vulkane stiegen und das Geheimnis der Höhlen erkundeten. In meiner Umgebung gab es solche Menschen nicht. Nur in Büchern las ich Berichte von Forschungsreisen und Expeditionen. Mit einer durch nichts zu erschütternden Gewißheit war
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