Der Jakobsweg
erhöht noch den Reiz, regt die Phantasie zu Traumbildern an.
In einem Mauerloch, nur zwei Meter von meinem Fensterplatz entfernt, entdecke ich ein Turmfalkennest. Die hell trillernden Bettellaute der Jungen sind nicht zu überhören. Das Männchen kommt erfolgreich vom Beutejagen zurück. Im Schnabel trägt es eine Maus. Der Kopf des toten Tieres hängt auf der einen Seite aus dem Schnabel, der lange Schwanz auf der anderen Seite. Obwohl ich mich nicht rühre, wagt es der Turmfalke nicht, zum Nest zu fliegen. Verunsichert durch meine Gegenwart, bäumt er an einem Ast auf. Genau kann ich das Turmfalkenmännchen, das man auch Terzel nennt, sehen. Eindrucksvoll kontrastiert die satte Rostfärbung des Rückens mit dem blaugrauen Kopf und Schwanz. Vom Auge zieht ein schwarzer Streifen abwärts. Es sieht fast so aus, als trüge er einen Wangenbart. Die Bettelrufe der Jungen werden lauter. Der Terzel kann diesem fordernden Geschrei nicht mehr widerstehen. Er breitet die Flügel aus und pfeilt auf die Mauernische zu. Die Jungen begrüßen seine Ankunft mit schrillem Gekreisch. Er reagiert mit erregten, vibrierenden Tönen: »wrriiiiihh, wrrriiiiihiiii.«
Die Fütterszene kann ich nicht beobachten, da sie sich tief verborgen im Mauerwerk abspielt. Mit hellem »kikikikikikiki« fliegt der Turmfalke wieder aus der Bruthöhle heraus. Auffallend sind im Flug seine schmalen, bogenförmigen Schwingen. Der lange, blaugraue Schwanz wirkt wie ein auf den Bogen gespannter Pfeil. Der Terzel fliegt über die Wiesen und Felder im weiten Umkreis vor meinem Fensterplatz. Ich kann beobachten, wie er rüttelt. Das ist eine besondere, dem Turmfalken eigene Flugtechnik. Wie ein Fächer ist der Schwanz ausgebreitet, und die Flügel schlagen schnell und heftig in kurzen Schwingungen auf und nieder. So kann er sich fast auf der Stelle in der Luft halten. Plötzlich klappt er die Flügel eng an den Körper und stürzt wie ein Geschoß mit rasender Geschwindigkeit der Erde entgegen. Kurz über dem Boden fängt er sich und steigt im weiten Bogen wieder empor. Wahrscheinlich hatte sich das Beutetier, vielleicht eine Maus oder ein größeres Insekt, vor ihm schnell in Sicherheit gebracht. Nun rüttelt der Falke erneut an anderer Stelle und späht nach unten, ob sich dort ein anderes Lebewesen regt.
Ich habe so gespannt dem Terzel zugeschaut, daß ich gar nicht gesehen habe, wie das Weibchen herangeflogen kam. Sie bemerkte mich erst, als sie kaum noch eine Armlänge vom Fenster entfernt ist. Eine hastige Kehrtwendung, und auch sie bäumt auf dem Ast auf, wie vorher der Terzel. Das Falkenweibchen ist schlichter gefärbt. Kopf, Rücken und Schwanz sind rotbraun mit vielen dunkelbraunen Tupfern und Flecken. Die lichtbraune Unterseite ist mit dunklen Einsprengseln verziert. Ihre großen, schwarzen Augen fixieren mich. Die Augen eines Greifvogels haben ein wesentlich besseres Auflösungsvermögen als die eines Menschen. Sie können noch winzige Details wahrnehmen, die für uns überhaupt nicht mehr sichtbar sind. Zwar hatte ich so ruhig gesessen, als sei ich ein Teil des Mauerwerks, aber wahrscheinlich hatte sie im letzten Moment an einer Kleinigkeit, vielleicht an meinem Lidschlag oder der Bewegung der Pupillen, erkannt, daß ich ein lebendes Wesen bin und ihr vielleicht gefährlich werden könnte. Doch bald wagt sie es, angespornt vom hungrigen Krakeelen ihrer Brut, zur Nisthöhle zu fliegen.
Schon bevor es Menschen auf der Erde gab, haben Turmfalken in Felswänden oder Baumhöhlungen gebrütet. Später, als die Menschen mehr und mehr seßhaft wurden und begannen, Häuser zu bauen, erschlossen sich den Falken neue Brutplätze. Die ursprünglich scheuen Vögel folgten den Menschen sogar in die Städte. Kirchtürme und andere hohe Gebäude wurden für sie zu einer Art Felsenlandschaft, bestens geeignet, dort ihre Nachkommen großzuziehen.
In stetem Wechsel fliegen die Eltern heran und lassen sich bald nicht mehr durch meine Anwesenheit stören. Im duftenden Holunder schlagen die Nachtigallen und ein gelbschwarzes Pirolmännchen läßt seinen melodischen »düdlüoh«-Ruf erschallen. Im nahen Dorf Guendulain bellt ab und zu ein Hund. Später höre ich Kirchenglocken. Mit abnehmendem Licht, einer hinter Wolken verborgenen Sonne, verändern sich die Farben. Die Bäume und Büsche werden fast schwarz und zwischen blaugrünen Feldern glänzt die Erde isabellenfarben.
Die Menschen, die früher in diesem Schloß gelebt haben, die Barone und Baronessen derer
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