Der Jakobsweg
Wärme und Gutherzigkeit aus. Seiner Kleidung ist anzumerken, daß für ihn die äußere Erscheinung absolut keine Rolle spielt. Schnell hat er einen Kaffee aufgebrüht, ihn ebenso schnell ausgetrunken, den Jungen im Bett aufgemuntert, seinen Klagen aufmerksam zugehört, Jesus herzlich umarmt, den Frauen einige Anweisungen gegeben, mir einen Schlafplatz zugewiesen und gesagt, morgen früh wolle er sich über den Pilgerweg mit mir unterhalten, aber jetzt müsse er wieder fort. Schnell, schnell, schiebt er die zwei Frauen aus der Tür und ist verschwunden.
Ich frage Jesus, was mit dem Jungen im Bett los sei, der einen ganz willenlosen Eindruck macht.
»Ach, der hat Probleme. Don Rafael hat ihn aufgenommen, bis er wieder auf die Beine kommt. Ist ja auch schlimm hier, für die Jugendlichen in diesem Barrio, sie haben keine Arbeit, keine Orientierung und keine Zukunft. Statt dessen Alkohol und Drogen.«
Es ist schon dunkel, als sich Jesus verabschiedet.
Am nächsten Morgen besteht der Pfarrer darauf, daß ich mit ihm frühstücke. Die Küche sieht verheerend aus. Wahrscheinlich hatte man nachts hier noch gegessen und geraucht.
Trotzdem findet Don Rafael in einem Wandschrank sauberes Geschirr und deckt ein Tischchen in seinem Arbeitszimmer. Er braut einen Tee aus getrockneten Kräutern. Stellt Milch, Honig und Weißbrot dazu, schält sorgfältig einen Apfel, den er in kleine Stücke zerschneidet. Er setzt sich mir gegenüber, zwängt seinen fülligen Körper in einen kleinen Korbstuhl.
»Erzählen Sie, was beeindruckt Sie an dem Pilgerweg?« eröffnet er das Gespräch. Aufmerksam hört er zu. Sein Blick ist ungewöhnlich intensiv, als würde er jedes einzelne Wort in sich einsaugen wollen.
»Und die Bäume? Sprechen sie mit Ihnen, spüren Sie deren Energie?« Er behauptet, der Mensch bekäme Kraft von den Bäumen. Er nennt es »el mundo vegetal«.
»Diese vegetative Kraft ist sehr wichtig. Die Menschen schenken ihr meist keine Beachtung, aber wer sensibel ist, der spürt sie. Ich könnte meine Aufgabe hier in dem Viertel gar nicht erfüllen, wenn mir nicht die Bäume helfen würden.« Ich bin erstaunt. Ich hatte den Pfarrer bis jetzt eher als sachlichen, pragmatischen Menschen eingeschätzt.
»Auf der Meseta, das ist die Hochebene Kastiliens, gibt es nur wenige Bäume. Sie stehen da wie einsame Wächter in einer fast grenzenlos weiten Landschaft. Diese Bäume haben eine ungeheure Ausstrahlung. Ich hatte das Gefühl, sie ziehen mich magisch an.«
»Sie sind auch zu Fuß nach Santiago gepilgert?«
»Ja, zusammen mit Jesus und noch einigen anderen. In Galicien ist es dann ganz anders«, fährt er fort. »Dort sammeln die Bäume ihre Kraft in den Wäldern. Es ist ein rätselhaftes, geheimnisvolles Land. Dort gibt es drei Augen.«
»Drei Augen...?«
»Ich sage Ihnen nicht, wo sie sind. Man darf sie nicht suchen. Sie sehen einen an, wenn man offen dafür ist. Es sind drei Augen, vielleicht werden Sie von ihnen angeblickt.«
»Was kann es bedeuten, wenn ich sie entdecke?«
»Nicht Sie entdecken die Augen, sondern sie zeigen sich Ihnen.«
Da bin ich mir jetzt schon sicher, wenn ich nach Galicien komme, werden jene Augen gewiß ihre Lider geschlossen halten. Möglich, daß andere Menschen tatsächlich mystische Erscheinungen haben, mir jedoch ist noch nie etwas Unreales begegnet. Ich erlebe die Natur als sich selbst genügend, selbst erfüllend und gestaltend. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihre Erscheinungen auf die Menschheit ausrichtet, dann bekämen die Menschen ja eine Wichtigkeit, die sie ganz offensichtlich nicht haben. Gewiß hat die Natur eine Wirkung auf uns, ich merke es an der Euphorie, die mir beim Wandern ein Gefühl vermittelt, als würde ich vom Boden abheben. Mir ist aber bewußt, daß die Schönheit der Landschaft, die mich so anrührt, nichts mit mir zu tun hat. Sie ist, wie sie ist, egal ob ich sie als schön oder häßlich empfinde, ob ich davon beglückt werde oder aber gleichgültig bleibe. Sie ist unabhängig von meiner Existenz. Die Menschen nehmen sich selbst viel zu wichtig und glauben, die Welt sei für sie da und wegen ihnen. Sie wollen immerfort nur sich selbst widergespiegelt sehen. Zu mir spricht kein Gott und kein Geist, und es blinzeln mir auch keine Baumaugen zu, weil ich gar nicht glauben würde, daß sie mich meinen, statt dessen würde ich wahrscheinlich nur Astlöcher sehen. Ich bin bemüht, mir meine Skepsis nicht anmerken zu lassen, denn ich will Don Rafael nicht
Weitere Kostenlose Bücher